Erst einmal ein Dankeschön an alle, die bislang ihre Eindrücke von TC im Kino geschildert haben - besonders auch Dir, Doris, dass Du von Deiner Praxis abgewichen bist, die Kritik ausschließlich bei Facebook zu posten.
Ich habe TC gemeinsam mit drei anderen Boardladies
im Cinema in München gesehen und möchte auch gerne noch ein paar Gedanken loswerden bzw. auf ein paar Punkte eingehen. Eine kurze Info: Die Theaterinszenierung am Old Vic habe ich insgesamt dreimal gesehen, zweimal aus der "Vogelperspektive" von den oberen Rängen aus, einmal ganz vorne in den Stalls sitzend. Die Vorstellung, die ich am 09. September in der ersten Reihe erleben durfte, wurde von Digital Theatre aufgezeichnet. Einen Eins-zu-Eins-Vergleich meiner Eindrücke in Theater und Kino kann ich natürlich dennoch nicht bieten, denn für die Kinoversion wurde definitiv Material aus mehreren Aufführungen verwendet.
Vorneweg: Digital Theatre hat bei Auswahl und Zusammenschnitt der Bilder einen sehr guten Job geleistet, wie ich finde. Mit den paar Unschärfen kann ich leben. Über die Art der Präsentation des Anfangs (Tituba schreitet die Bühne ab, die Requisiten werden hereingetragen) war ich zunächst etwas irritiert, doch dieser Stil wurde für alle Sequenzen zwischen dem eigentlichen Geschehen beibehalten und gefiel mir dann doch, weil die entrückte, traumartige Stimmung dadurch gut transportiert wurde. Ein wenig schade ist es allerdings, dass man gerade bei diesen Zwischenphasen auf einen Wechsel in die Vogelperspektive verzichtet hat, denn die Verwendung von Licht und die choreographische Nutzung der Rundbühne empfand ich auf meinem Platz in den Rängen als überaus sehenswert. Nun, es wird sicher Gründe dafür gegeben haben, nah am Geschehen zu bleiben.
Ein paar Worte zur unterschiedlichen Wirkung der Kinoversion im Vergleich zum Theaterbesuch; Laudine hat es ja schon wunderbar zusammengefasst:
Laudine hat geschrieben:
Der Film ist einfach kein Ersatz für die Aufführung - kann es auch nicht sein, denn die Inszenierung ist als Theateraufführung unter besonderen Bedingungen gemacht, nicht als Film.
Und zum Glück ist das auch so, denn sonst bräuchte man ja nicht mehr ins Theater zu gehen!
Laudine hat geschrieben:
Durch die Präsentation kann man sich keinen so unabhängig-individuellen Gesamteindruck verschaffen, wie im Theater, und interessante Details, denen man seine Aufmerksamkeit vielleicht widmen würde, bleiben einem durch die Regieauswahl verschlossen.
Im Theater kannst Du Deine Blicke schweifen lassen, Dich bewusst einmal nicht auf die gerade sprechenden Akteure konzentrieren, sondern beispielsweise eine Person am Rand in Augenschein nehmen, Dich ein wenig zurückziehen, wenn Du das möchtest...
Zur Lautstärke/den Schrei-Szenen:doris-anglophil hat geschrieben:
Wenn permanent geschrien wird, nutzt sich das mit der Zeit ab und man stumpft ab dagegen. Ich (und diesen Eindruck hatte auch meine Begleitung) empfand es als überzogen und als das viel zu oft genutzte Mittel des Ausdrucks. Vielleicht trug das auch dazu bei, dass alles sehr vorhersehbar war und sich mehr oder weniger ständig auf einem Schrei-Niveau bewegte, von dem man einfach nicht mehr herunterkam.
aikota hat geschrieben:
Was die Schrei-Szenen angeht, mag es sein, dass sie in der abgefilmten Version deutlicher und länger wirken.
kristin hat geschrieben:
Im Ganzen empfand ich das Stück auf der Leinwand etwas hektischer und schreilastiger als im Theater. Da war dafür einfach mehr Platz, dass sich das alles ein bisschen verteilen konnte.
Tatsächlich ging es mir auch so, dass ich das Schreien im Kino deutlich wahrnahm. Im Theater fiel mir das nicht weiter - und schon gar nicht unangenehm - auf. Laudine hat ja bereits eine Erklärung dazu geliefert:
Laudine hat geschrieben:
Während durch die Bewegung im Raum die Lautstärke für das Auditorium vor Ort automatisch variiert, wurde sie durch die Tonaufzeichnung mit dem Mikrofon statischer.
doris-anglophil hat geschrieben:
Überraschender und subtiler wären dann und wann die leisen Töne gewesen, die etwas erzeugt hätten, was unvermutet, unverhofft und aufgrund dessen eindringlicher gewesen wäre.
Eine Meisterin der leisen Töne war meines Erachtens Elizabeth. Abgesehen davon möchte ich noch anmerken, dass das Spiel des Ensembles natürlich je nach "Tagesform" variierte. Es wurde also nicht immer gleich viel geschrien.
Ich erinnere mich zum Beispiel, dass Richard das "God damns our kind especially" in "unserer" Vorführung am 09. September deutlich ruhiger und resignierter aussprach als in der von DT verwendeten Szene.
doris-anglophil hat geschrieben:
Verständlich, also bestens akzentuiert und dezidiert in ihrer Sprache, waren eigentlich alle Akteure. Am meisten Probleme bereiteten mir Mr. Parris (Michael Thomas) und – tja – Mr. Proctor (Richard Armitage). Ersterer hatte anfänglich ein gewisses Nuscheln an sich und letzterer setzte zu sehr auf das tiefe, kehlige Timbre seiner Stimme, so dass er Frequenzbereiche, die das gefällige Hören ermöglichen, nicht ganz erreichte und bedienen konnte.
Mr. Parris hatte eine etwas feucht-verwaschene Aussprache. Richard hingegen habe ich sehr gut verstanden. Am meisten Probleme hinsichtlich seiner Verständlichkeit bereitete mir Giles Corey.
Zur Länge der Inszenierung:doris-anglophil hat geschrieben:
Das Stück ist um etwa eine halbe Stunde zu lang. Es gäbe Möglichkeiten der Kürzung, ohne Frage, und ich könnte sie aufzeigen. Manchmal muss man einfach wagen, das eine oder andere noch weg zu kürzen; den Mut dazu aufzubringen, ist zugegeben schwer. Es gehört zu meinem Beruf und ich weiß, wie viel Überwindung es kostet. Ich selbst habe mich gestern beim Gähnen erwischt, nicht weil es nicht fesselnd oder gar öde gewesen wäre, nein, einfach aus einer gewissen Langatmigkeit heraus, die man durchaus hätte vermeiden können.
Da sind die Geschmäcker verschieden. Für eine Freundin, die ebenfalls mit im Kino war, zog sich gerade der Anfang zu lange hin. Ich dagegen möchte eigentlich keine Minute davon missen...
Zur (emotionalen) Wirkung: doris-anglophil hat geschrieben:
Das Stück bleibt beim Betrachten auf Kinoleinwand dem Zuschauer seltsam entrückt, was es ganz sicher live vor Ort im Old Vic nicht gewesen ist. Das empfinde ich als den großen Nachteil dieser Version.
Zwar verständlich, aber dennoch schade, dass dieser Eindruck entstanden ist. Mich hat die Kinoversion zwar wieder bewegt, allerdings doch weniger als im Theater. Ich wünschte, Du hättest das Stück im Old Vic sehen können, Doris. Für Distanz blieb kaum Raum, die Inszenierung sprang Dich an und ließ Dich nicht aus ihren Klauen.
Auch beim dritten Mal Sehen riss sie mich wieder mit - gerade das Ende war überwältigend.
Wie soll aber auch eine Filmaufnahme das transportieren, was man im Theater erlebt? Alleine die Atmosphäre, der Duft von Titubas Räucherwerk, der Geruch von Elizabeths Eintopf, das Flackern des Feuers... Ich zitiere mal kurz aus einer euphorischen PN, die ich nach der Vorstellung am 09. September geschrieben hatte:
Zitat:
Doch nun zurück zur Vorstellung am Dienstag: Sie war... unglaublich gut.
Die Emotionen in den Gesichtern der Akteure haben mich völlig in Bann gezogen! Das Mienenspiel, die Schweißtropfen, die Blicke, die Tränen! Und so nah am Geschehen, dass Tituba fast über unsere Füße stolpert, Mary Warren vor uns kauert, man John Proctor berühren könnte, wenn man nur den Arm ausstrecken würde...
Wir zucken zusammen, wenn Richter Danforth plötzlich losbrüllt, Proctor auf den Tisch drischt oder Abigail & die Mädchen bei Gericht ihre Show abziehen... Zuckende Leiber vor uns, ein Geschrei, ein Chaos, das man selbst ganz
wird.
Zu Richards Leistung: kristin hat geschrieben:
Richards Ganzkörperpräsenz hat ein bisschen gefehlt, die bildet für mich ja, gemeinsam mit seiner Stimme, seine große Stärke.
Seine körperliche Präsenz hat eine Qualität, die in der Aufzeichnung deutlich weniger zutage tritt als im Theater. Besonders fiel mir der Unterschied bei der Szene auf, in der wir John Proctor nach Monaten im Gefängnis wiedersehen. Im Theater brach mir Richards Auftritt jedes Mal aufs Neue das Herz. Vorher hatte sein Proctor die Bühne häufig mit seiner physischen Präsenz beherrscht - ein Bär von einem Mann, voller Kraft, in der Interaktion mit Parris und Putnam gelegentlich sogar bedrohlich. Und dann der absolute Kontrast, wenn er Elizabeth im Gefängnis trifft. Ein Schatten seiner selbst, so schwach und zerbrechlich, dass man darüber weinen möchte, was diesem Mann angetan wurde.
Und zugleich gibt es diesen Blick zwischen Proctor und Elizabeth, eine ungeheuer starke Verbindung. Nur der jeweils andere existiert in diesem Moment, alles andere verblasst zur Bedeutungslosigkeit.
aikota hat geschrieben:
Ich stimme zu, dass RA manchmal etwas zu bemüht erschien. An einigen Stellen seiner Monologe sprach er mir mit zu viel Pathos (in der Stimme), und damit haben wir Deutschen ja nun echt ein Problem. Pathos ist für mich ein no-go im Theater, aber das hängt natürlich mit unserer schlimmen Nazi-Vergangenheit zusammen - die Briten gehen mit Pathos relativ unbekümmert um. Aber natürlich wirkt es dann trotzdem etwas "gespielt".
doris-anglophil hat geschrieben:
Seltsamerweise hatte ich einige wenige Male, nicht einmal für Sekunden, den Eindruck, dass Armitage Theater spielt. An was es lag – spekulativ, doch siehe gegebenenfalls nächsten Absatz.
Für seine Rückkehr auf die Bühne nach Jahren bei Film und Fernsehen hätte es unter Umständen auch eine etwas einfachere Rolle getan. Nicht, dass er sich an John Proctor verhoben hätte, das gewiss nicht, aber so manches Mal beschlich mich das Gefühl, dass er einfach zu viel hineinlegte, fast schon zwanghaft eine große Leistung abliefern wollte und das drang zu mir durch. Er machte sich selbst Druck und das spürte ich. Es könnte der Grund sein, weswegen ausgerechnet er es war, der für Bruchteile von Sekunden, kaum merkbar wahrscheinlich, ooc fiel. Für mich war dies die überraschendste Erkenntnis des Abends.
Mein Urteil damals nach der Vorstellung im September:
Zitat:
Am intensivsten aber fand ich die Szenen mit seiner Frau und die letzten Momente, als er zunächst "gesteht" und schließlich das geschriebene Geständnis doch zerreißt. Für mich waren diese Momente kaum zu ertragen. Das Ringen mit sich selbst, die inneren Qualen, die Proctor/Richard erlebt... sie zerreißen ihn förmlich.
Wie unglaublich anstrengend es sein muss, jeden Tag wieder diesen emotionalen Gewaltakt zu unternehmen... Ich kann nun auch besser nachvollziehen, was Richard in der Fragerunde im Old Vic gesagt hat. Dass er sich übergeben musste, dass er zitterte etc. Gerade in diesen intensiven Momenten habe ich keinen Schauspieler gesehen, der Gefühle vorgibt. Der Mann dort WAR John Proctor, mit Leib und Seele.
Es stimmt mich ein wenig traurig, dass gerade Richard Euch nicht zu 100% überzeugt hat und wüsste zu gerne, ob Euer Eindruck ähnlich gewesen wäre, wenn Ihr die Inszenierung live im Old Vic gesehen hättet.
Noch eine Bemerkung zum Schluss: Ich bin wirklich dankbar, dass Digital Theatre TC aufgezeichnet hat; erstens, weil diejenigen, die nicht in London dabei sein konnten, trotzdem in den "Genuss" der Inszenierung kamen (oder noch kommen werden, wenn der Download verfügbar ist); zweitens, weil die Theaterbesucher, die nicht so nahe an der Bühne saßen, nun Gelegenheit haben, die Mimik der Schauspieler näher zu studieren; drittens, weil es schön ist, die TC-Zeit wieder ein wenig aufleben zu lassen und zusätzlich zur eigenen Erinnerung etwas "Handfestes" zu haben.
Und frau sieht sich und OH auch nicht jeden Tag auf der Kinoleinwand...