Aktuelle Zeit: 29.04.2024, 13:07

Alle Zeiten sind UTC + 1 Stunde


Forumsregeln


Die Forumsregeln lesen



Ein neues Thema erstellen Auf das Thema antworten  [ 747 Beiträge ]  Gehe zu Seite Vorherige  1 ... 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10 ... 50  Nächste
Autor Nachricht
 Betreff des Beitrags:
BeitragVerfasst: 06.03.2007, 09:21 
Offline
Severus Snapes Vampirfrau & Josef Kostans PR-Manager
Benutzeravatar

Registriert: 17.12.2006, 10:45
Beiträge: 10608
Wohnort: Dungeon
Sehr schön und sehr traurig.

_________________
Bild

Die größten Abenteuer finden in meinem Herzen statt!





Nach oben
 Profil  
Mit Zitat antworten  
 Betreff des Beitrags:
Verfasst: 06.03.2007, 09:21 


Nach oben
  
 
 Betreff des Beitrags:
BeitragVerfasst: 07.03.2007, 12:53 
Offline
Mill overseer & MM ambassador
Benutzeravatar

Registriert: 02.05.2006, 10:58
Beiträge: 24355
Wohnort: zu weit weg von der Glückseligkeit
Heute wieder ein bisschen ein Häppchen von Paul Prior, bittesehr:

Teil 3

Paul stand sekundenlang regungslos an der Eingangstür und versuchte, den fast übermächtigen Reflex nach einer Zigarette, besser noch nach einem Joint, niederzukämpfen. Dafür fuhr er mit den Fingern über die Stelle auf seinen Wangen, wo ihn ihre Lippen berührt hatten. Gemerkt hatte er in dem kurzen Moment nicht viel davon, doch jetzt im Nachklang war ihm plötzlich, als empfinde er eine gewisse Wärme genau dort. Er schloss die Augen, atmete tief durch und machte sich klar, dass er keinen Joint brauchen würde, wenn er von dem zehren konnte, was Doro ihm hinterlassen hatte.

Der Zivildienstleistende sprach ihn unvermittelt an, daher zuckte er beim Klang der Stimme hinter ihm zusammen: „Mr. Prior, ich muss nun die Eingangstür absperren. Kommen Sie bitte mit rein. Gute Nacht dann, Mr. Prior.“

Das tosende Geräusch, fast wie Meeresrauschen, nur intensiver, hörte er bevor er sah, was es verursachte. Suchend blickte er sich um, um die Ursache des Lärms auszumachen. Als er die staubende, sich mehr und mehr aufbauende weiße Schneewand auf sich zurasen sah, wusste er, dass alles zu spät sein würde. Er knallte hart auf den Boden, die Lawine überrollte ihn mit all ihrer Macht, wirbelte ihn einige Male hoch und runter, riss ihn eine Weile mit sich und begrub ihn dann endgültig unter sich, deckte ihn mit ihrem kalten, weißen Leichentuch zu. Er spürte sofort, dass er ersticken würde. Er wollte den Mund aufmachen, um sich bemerkbar zu machen, zu schreien, hatte aber sofort eine Unmenge Schnee zwischen den Zähnen. Er würde unter den Schneemassen elend verrecken, das war ihm nun klar. Er bekam bereits jetzt schon keine Luft mehr…

Paul schrie aus Leibeskräften und krallte seine langen, kräftigen Finger in die Matratze, bis jede der Sehnen einzeln sichtbar wurde. Sein Herz raste vor Angst.
Die Tür wurde von außen rasch geöffnet und ein Pfleger trat in den Raum: „Na Mr. Prior, mal wieder schlecht geträumt? Sie wecken ja das halbe Haus auf mit Ihrem Gekreische, meine Güte.“
Fantastisch, in der Situation hatte man einen ‚sensiblen’ Pfleger wie diesen Herrn so nötig wie einen Kropf. Gab es in dieser Scheißklinik denn gar kein qualifiziertes Personal? Abgesehen von Dr. da Silva, der aber natürlich nicht nachts im Haus herumrannte, um durchdrehende Patienten zu beruhigen.

Er richtete sich halb im Bett auf und blinzelte verkniffen in das Licht der Taschenlampe: „Schon gut, Hannes, ich denke, es wird mir gleich besser gehen.“ Der Pfleger nickte: „Möchten Sie kurz ins Badezimmer, vielleicht ein bisschen kaltes Wasser ins Gesicht spritzen?“ Paul nickte und kroch zitternd aus dem Bett. Der Pfleger warf ihm einen Bademantel über und stützte den Patienten am Ellbogen, half ihm die wenigen Schritte ins Bad hinein. Der Wasserhahn lief und verbreitete ein ähnlich tosendes Geräusch wie die Lawine im Traum. Paul schreckte zurück, total blass im Gesicht. Dennoch brachte er es fertig, unterstützt von Pfleger Hannes, sich eine Handvoll Wasser über das erhitzte Gesicht laufen zu lassen. Doch das Wasser war kalt, sehr kalt sogar und erinnerte ihn an den Berg von Schnee, der sich im Traum über ihn gelegt hatte.

So schnell es ging, taumelte er zurück ins Bett. Sorgfältig legte der Pfleger den Bademantel gefaltet über einen Stuhl, ach ja, für derartigen Kram hatte man Zeit hier.
„Gute Nacht, Mr. Prior.“ Das war alles, die Tür hatte sich bereits wieder geschlossen.

Paul konnte nicht wieder einschlafen, das war fast klar. Er versuchte, den Alptraum abzuschütteln, versuchte, an Doro zu denken. Doch dann fiel ihm ein, dass sie ja eventuell zusammen auf die Skipiste wollten und was wäre, wenn ihn die Lawine da erwischte? Er hockte kerzengerade im Bett. Scheiße, elende!

Er hatte zwischen Artilleriefeuer und Bombenhagel gelernt, mit recht wenig Schlaf auszukommen, aber da hatten ihm immer mal wieder gewisse Hilfsmittelchen über schwere Zeiten und besonders harte Phasen hinweg geholfen. Diese Mittelchen standen ihm hier nicht mehr zur Verfügung. Er hustete trocken, drehte sich zu seiner Nachtkonsole um und holte die gebündelten Briefe aus Neuseeland heraus. Er knipste seine Bettlampe an und fischte den ersten Brief aus dem Umschlag. Er mochte die Briefe von Penny eigentlich nicht lesen, sie erging sich wieder und wieder in endlosen Selbstanklagen, er hatte das Thema satt bis oben hin. Nur die Passagen, wo sie über den Fortgang der Dinge bezüglich Andrew schrieb und den Teil, den Jonathan in seiner halbkindlichen Schrift an seinen Onkel hinzufügte, las er genauer durch.

… es geht einigermaßen gut in der Schule. Miss Seagar achtet sehr auf mich, das ist nett von ihr. Diese Woche hatte ich wieder einen Termin beim Psyscholoken (er hatte das Fremdwort natürlich falsch geschrieben), der ist auch sehr nett. Wir machen immer erst ein paar Spiele und dann erzähle ich ihm, wie meine Woche war und wie ich mich fühle. Ich habe ihm von dir erzählt, aber ich denke, er wusste sowieso schon aus den Zeitungen und wegen dem ganzen Unglück von dir. Er hat mich gefragt, ob ich dich mag und ich habe gesagt: Klar mag ich Onkel Paul, er hat es ja so schwer, weil er so einen aufreibenden Job hat und er immer irgendwo sein muss, wo gerade Krieg ist. Na ja, und dann reden wir manchmal auch darüber, wie ich zu Mum und Dad stehe, vor allen Dingen, wo ich nun weiß, dass Dad den tödlichen Unfall von Celia Steimer verursacht hat – ach, ich kann darüber nicht schreiben, es ist vielleicht auch besser so, denn du willst das bestimmt auch gar nicht lesen, lieber Onkel Paul…

Das Kind hatte es instinktiv erfasst. Er wollte Augen und Ohren verschließen, nichts mehr davon hören, vor allen Dingen, da Jonathan ja nicht einmal die richtige Sicht auf die Dinge hatte und immer glauben würde, dass sein Vater Celia den Stoß über die Galeriebrüstung versetzt hatte. Obwohl es in Wirklichkeit der Ausraster von Penny gewesen war, der zum dem tödlichen Sturz geführt hatte.

Wieder und wieder erschienen Bilder vor dem geistigen Auge von Paul: Celia, wie sie sich auf der Straße vor der Obstplantage von ihm verabschiedete, ihre letzten Worte: „Es nuestro secreto – mach’s gut, Bruder!“ Er merkte, wie ihm die Tränen in Sturzbächen die Wangen herunter liefen, er schniefte und zupfte ein paar Kleenex-Tücher aus der Box auf dem Nachttisch. Warum, warum, warum! Das Leben war so sinnlos, so ohne Weg und Ziel für ihn. Wozu machte er eigentlich den Entzug? Er hatte niemanden, der sich um ihn sorgte, kümmerte. War es da nicht scheißegal, ob er seinen Körper langsam durch Rauschmittel zu Grund richtete oder durch eine Landmine in der Luft zerfetzt wurde? Es würde niemand zu seiner Trauerfeier erscheinen, abgesehen vielleicht von Miss Seagar und Penny und Jonathan. Würde Jackie kommen? Sehr fraglich. Andrew – ebenfalls fraglich. Er lachte höhnisch auf. Super! Eine Beerdigung mit drei Leuten an seinem Sarg. Wirklich, er brachte es zu hohen Ehren!

Während Paul Prior nach einem Frühstück, das in ihm wie fast jeden Morgen einen leichten Brechreiz auslöste, weil er sich zwang, den ekligen Früchtetee zu trinken und dann ein Croissant mit ein wenig Aprikosenmarmelade runterwürgte, völlig unmotiviert in seiner Maltherapie hockte, hatte Doro mit viel Durchsetzungsvermögen einen Termin beim behandelnden Arzt Dr. da Silva erwirkt. Erst wurde ihr gesagt, dass der Doktor sehr beschäftigt sei, aber als er am Rande mitbekam, dass es sich um sein Sorgenkind Mr. Prior handelte und die Dame sich nicht abwimmeln ließ, gewährte er ihr ein paar Minuten seiner kostbaren Zeit.

„Frau Jungheim, sind sie denn eine Verwandte von Mr. Prior? Das wäre natürlich ein wirklicher Glücksfall, vielleicht könnten Sie uns bei diesem Patienten ein wenig auf die Sprünge helfen, es wäre bitter notwendig, um einen Therapieerfolg zu erzielen.“
„Nein, ich kenne Paul erst sei kurzem, leider.“
„Schade, wirklich schade. So fällt natürlich alles komplett unter die ärztliche Schweigepflicht. Nun ja, was kann ich dennoch für Sie tun?“

„Ich möchte Sie bitten, Mr. Prior von einigen seiner Therapieverpflichtungen zu entbinden, damit er mit mir zum Skifahren gehen kann.“
„Bitte? Aber Frau Jungheim, das können Sie nicht ernst meinen! Das wird kaum möglich sein.“
„Soweit ich das mitbekommen habe, sperrt Paul sich gegen einige Therapien, sieht keinen Anlass dazu und keine Motivation darin, ist das richtig?“
„Ja, ich muss zugeben, dass wir da erhebliche Probleme haben, Mr. Prior ist sehr unkooperativ. Der für ihn zuständige Psychologe, Herr Eisenbach, kratzt nur an der Oberfläche herum, aber wirkliche Fortschritte sind keine zu verzeichnen. Herr Eisenbach ist mittlerweile soweit, dass er sagt, wenn Mr. Prior sich binnen einer Woche noch immer verschlossen zeigt, wird er ihm anraten, die Klinik zu verlassen. Wer nicht therapiert werden möchte, hat seinen Anspruch auf einen Platz hier leider verwirkt. So leid es uns tut.“

„Doktor da Silva, geben Sie mir eine Woche mit Paul und er wird sich der Therapie produktiv stellen!“
„Wie kommen Sie zu der Annahme?“
„Ich habe es im Gefühl. Ich denke, ich kann da einiges bewirken, ich hoffe es sogar sehr. Bitte!“
„Frau Jungheim, das ist ein ziemlich vages Fundament, auf das ich da bauen soll.“
„Was haben Sie zu verlieren? Noch weniger Mitarbeit als derzeit ist bei Paul kaum noch möglich, es kann also nur besser werden. Lassen Sie es mich versuchen.“

Der Arzt zögerte. Aber die Frau vor ihm hatte Recht. Man musste bei Paul Prior nun alles auf eine Karte setzen. Verlor man, war man nicht schlechter dran als jetzt, gewann man – fantastisch! Er holte tief Luft und sagte dann: „Also gut! Ich verspreche mir nicht allzu viel davon, aber lassen Sie es uns versuchen. Ich nehme Mr. Prior aus allen Nachmittagsterminen heraus, für - sagen wir fünf Tage. Zu den Mahlzeiten muss er jedoch im Haus sein, eine Ausnahme gewähre ich Ihnen und ihm, an einem Abend Ihrer Wahl darf er auch das Abendessen außerhalb einnehmen. Ist das in Ihrem Sinne, Frau Jungheim?“

Sie nickte zögerlich: „Ja, eine ungewöhnliche Bitte hätte ich noch!“
Der Arzt schaute sie fragend an: „Und die wäre?“
„Wenn Sie ihm ein Dinner mit mir gewähren, wäre es kontraproduktiv, ihn dann wieder für die Nacht in die Klinik zu bringen. Er soll sich an diesem Tag völlig frei und zwanglos fühlen.“

“Meine liebe Frau Jungheim, sie verlangen da Ungeheuerliches von mir. Das sind Ausnahmeregelungen, die nur sehr selten zur Anwendung kommen. Mr. Prior – und das sage ich Ihnen nun, obwohl ich damit meine Schweigepflicht zum Teil verletze – leidet vermutlich auch unter Störungen des Sexualverhaltens und ich möchte Sie daher ausdrücklich warnen. Unter Entzug können ungeahnten Aggressionen auftreten und Ihre Sicherheit ist dann nicht gewährleistet. Bitte, halten Sie sich das immer vor Augen. Er könnte sich als unberechenbar und gefährlich erweisen. Ich habe Sie ausdrücklich gewarnt. Wenn Sie nun trotzdem einverstanden sind, dann macht Ihnen das Sekretariat ein Schreiben fertig, in welchem Sie schriftlich bestätigen, dass ich Sie über die Risiken im Umgang mit dem Patienten hinreichend aufgeklärt habe. Bei unvorhergesehenen Vorkommnissen rufen Sie sofort die Klinik an, auch das wird Ihnen zur Auflage gemacht. Und nun müssen Sie mich wirklich entschuldigen, ich komme bereits zu spät zu meinem nächsten Termin. Viel Erfolg – und Sie halten mich auf dem Laufenden, ja?“

Damit war der Arzt verschwunden. Doro wartete auf das Schreiben, das ihr zwanzig Minuten später von einer Sekretärin vorgelegt wurde. Sie las sich die Auflagen und Warnungen mehrere Male durch, dann setzte sie schwungvoll ihre Unterschrift darunter. Dem Skivergnügen gemeinsam mit Paul stand nun nichts mehr im Wege.

Der Zivi kam auf Paul zu: „Hallo, Mr. Prior. Sie haben Besuch, die nette Dame von gestern sitzt in der Cafeteria und möchte mit Ihnen sprechen.“ Paul blickte von seinem Essenstablett auf und schaute den Zivi ungläubig an. Dann ließ er die Gabel klirrend auf den Teller fallen und sprang auf. Das Mittagessen interessierte ihn nicht mehr.

In der Besuchercafeteria saß Doro vor einem Pfefferminztee und einem Stück Käsekuchen. Sie hörte eilige Schritte hinter sich und als sie sich umdrehte, stand Paul vor ihrem Tisch. Seine große Gestalt warf einen regelrechten Schatten auf sie. Er versuchte sich in einem Lächeln, es ließ ihn jungenhaft wirken. „Was machst du hier?“ Er ließ sich auf dem Stuhl gegenüber von ihr nieder.

Sie schaute konzentriert auf ihren Kuchenteller: „Ich esse Kuchen und trinke einen Tee. Hallo Paul.“
Er lachte nervös: „Das sehe ich. Ich meine, gibt es einen bestimmten Grund, deinen Tee hier oben in der Klinik zu trinken?“
Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, stach mit der Gabel ein Stück Kuchen ab und schob es sich in den Mund. Paul trommelte unruhig mit den Fingern auf der Tischplatte herum. Nachdem sie gekaut und geschluckt hatte, antwortete sie: „Nein, eigentlich keinen. Aber da ich schon mal da bin, bitte…“ und mit diesen Worten schob sie ihm ein Schriftstück über den Tisch. Er nahm es auf und las:

"Hiermit entbindet die Klinikleitung, hier vertreten durch den behandelnden Arzt, Guiseppe da Silva, Mr. Paul Prior für die Dauer von fünf Tagen, beginnend mit dem (es folgte das genaue Datum) von allen Therapieverpflichtungen zwischen Mittagessen und Abendbrot. Weiterhin wird an einem Tag Mr. Prior kompletter Ausgang, inklusive einer Übernachtung außerhalb der Klinik gestattet. Der genannte Tag ist innerhalb der vereinbarten Frist frei wählbar.
Mr. Prior verpflichtet sich jedoch, den Ort
(hier las man den Namen des Ortes) nicht zu verlassen und sich stets in Begleitung von Frau Doro Jungheim aufzuhalten. Ein Abweichen von dieser Vereinbarung ist nicht zulässig und hat den unmittelbaren Abbruch der Therapie zur Folge. Weitere Vereinbarungen und Ausnahmen sind gegebenenfalls unverzüglich mit Dr. da Silva abzustimmen…"

Das Schreiben enthielt noch weitere Klauseln, doch das Wichtigste hatte Paul gelesen. Er ließ das Schreiben auf den Tisch sinken und starrte Doro sprachlos an: „Das kann ich nicht glauben. Wie hast du das gemacht? Warum hast du das gemacht?“
„Hör mal, wir haben nicht so super viel Zeit. Ich möchte heute noch sehen, wie du dich auf Skiern so machst, also erkläre ich dir alles auf dem Weg.“ Sie stand auf und zog den perplexen Paul am Ärmel seines Pullovers hinter sich her. Am Ausgang der Cafeteria merkte sie, wie der Ärmel lang und länger wurde, weil Paul einfach stehen geblieben war.
Sie drehte sich um: „Mensch, was ist denn…“, aber sie kam nicht dazu, den Satz zu vollenden, denn er stand im Türrahmen und lachte lauthals. Zum ersten Mal sah sie ihn richtig aus vollem Halse lachen und sie fand, es stand ihm gut.

Zwei Stunden später stand er in der Gondelbahn neben ihr. Sie hatten ein Sportgeschäft und einen Skiverleih aufgesucht und ihn entsprechend winterfest und skitauglich ausgestattet. Er hatte das Gefühl, obwohl die Schnallen noch nicht fest geschlossen waren, in den Skistiefeln einzementiert zu sein. Großer Gott, und damit sollte man sich sportlich bewegen können? Nicht zu fassen!

Was ihn am meisten wunderte, war die Länge seiner Skier. Die in der Mitte schmaleren und an am vorderen und hinteren Ende breiteren Bretter gingen ihm nicht einmal bis zum Ohr. ‚Drehfreudiger’ wären sie so für ihn als Anfänger. Einfacher zu beherrschen, es handele sich um so genannte ‚Allround-Carver’. Aha! Doro hingegen hatte Bretter die wesentlich länger waren als seine Skier, und das bei ihrer geringen Körpergröße. Er fragte sie, warum: „Ach, das sind meine uralten Rossignol Rennskier, die mag ich einfach, auch wenn sie heute nicht mehr dem gängigen Standard entsprechen und schwer zu fahren sind, vor allen Dingen, wenn man so ein Zwerg ist wie ich. Aber ich bin es so gewohnt und komme gut damit klar.“

Oben an der Bergstation ließ man erst einmal die Menge aus der Gondel vor und nahm sich Zeit. Doro erklärte, was man auf keinen Fall machen sollte, wenn man zum ersten Mal auf Skiern stand. Doch statt die Skier nun anzuschnallen, schulterte sie die Bretter und bedeutete ihm, es ihr gleichzutun. Sie hatte einen sanften Hang, der in einer großen Mulde endete und abseits von den frequentierten Pisten lag, ausgesucht. Nun erst ließ sie Paul sich auf seine Skier stellen. Sie schaute, dass alles seine Richtigkeit hatte, dann klackte sie selbst in Sekundenschnelle in ihre Bindung ein. Doch noch immer gab es keine Jungfernfahrt für ihn. Sie drehte sich zu ihm hin und stieß ihn in einer blitzschnellen Bewegung so feste an, dass er sofort das Gleichgewicht verlor und in den Schnee fiel: „Hey, was soll das? Wieso versetzt du mir denn einen Stoß? Bist du verrückt?“

Er war leicht ungehalten, aber sie schaute ungerührt auf das Chaos von Skiern und Stöcken zu ihren Füßen und meinte lakonisch: „Erste Lektion: Wie stehe ich auf, wenn ich gefallen bin! Und glaub mir, das wird öfter vorkommen, als dir lieb ist!“ Sie ließ sich neben ihn in den Schnee plumpsen und zeigte ihm dann, wie man die Skier zum Berg stellen musste, und dann mit Hilfe von Händen und Stöcken aufstand. Möglichst, ohne sofort zu Tal zu rasen.

Er mühte sich, aber etwas rutschte immer weg. Entweder machte sich ein Ski selbständig, oder er verhedderte sich im Stock, oder er rutschte mit der Hand ab. Er fluchte teilweise sehr unanständig. Dann gelang es ihm zwar aufzustehen, aber er stand schon zu steil zum Hang und fuhr ihr davon. Nur wenige Meter, dann lag er wieder im Schnee. Sie fuhr mit ein paar geschickten Schwüngen hinterher. „Niemals werde ich diesen Krampf lernen“, keuchte er, als er mit hochrotem Kopf wieder hochkam.

Er zog ein Zigarettenpäckchen aus der Skijacke hervor und bot ihr zuerst eine an. Sie schüttelte den Kopf: „Lass mal, aber ich rauche gerne ein, zwei Züge bei dir mit, wenn ich darf.“ Er zog einen Handschuh aus und zündete die Kippe an. Die ersten Züge genoss er sichtlich. Ganz ohne kam er einfach nicht aus. Noch nicht. Dann reichte er die Zigarette an Doro weiter, die ebenfalls einen Handschuh ausgezogen hatte. Sie nahm einen Zug, inhalierte und blies den Rauch wieder aus.

Noch einen zweiten tiefen Zug, dann gab sie ihm den Rest der Kippe zurück. Ihre Finger berührten dabei seine, diesmal aber zuckte er zurück. Er hatte eine Sanftheit, einen leichten Druck, ein Flattern bei dieser Berührung bemerkt. Die Zigarette landete im Schnee, dann umschloss seine Hand ihre Finger, ohne Druck zunächst, es war nur ein Probieren. Er verschränkte seine Finger einzeln mit den ihren, spürte dabei ein ungewohntes Kribbeln. Er schaute sie über den Rand seiner Sonnebrille an, sagte aber nichts.

Sie fand die Worte, die ihm fehlten: „Was ist es? Was spürst du?“
Er wusste nicht, wie er es erklären sollte. So zuckte er nur mit den Schultern. Sie entzog ihm seine Hand. Er runzelte die Stirn, griff wieder danach, drehte sie herum und betrachtete sie so genau, als hätte er noch niemals zuvor eine menschliche Hand gesehen.
Dann endlich redete er: „Ich fand es auf einmal schön. Es liegt vielleicht auch daran, dass wir die ganze Zeit hier mit Handschuhen herumlaufen und dann plötzlich… du hast so kleine Hände, unglaublich.“

Es war ein winziger Schritt nach vorne. Ihm waren Dinge aufgefallen, die ihm normalerweise niemals wichtig gewesen wären, er hatte die Berührung als schön empfunden, das war genau die Richtung, die er einschlagen musste. Aber es war noch ein weiter Weg, ein gutes Stück Arbeit bis man von einem Therapieerfolg würde sprechen können. Er fror nun wieder, die Bewegung fehlte, das Rumstehen war nicht gut. Doro erklärte ihm, wie er technisch hinter ihr her fahren musste, wie genau er ihre Bewegungen, ihre Schwünge, ihr Umsteigen, ihr Gewichtverlagern beobachten musste, um es an sich selbst umsetzen zu können. Es war nicht einfach, weil er vieles einfach noch übersah, nicht konzentriert genug war, aber es lief nach einer Weile immer besser. Als die Sonne schon sehr tief stand, beschloss Doro, es für heute genug sein zu lassen und sie stapften schweigend zur Bergstation zurück.

_________________
No, I can't, really... (MMs Antwort auf eine "freche" Frage von mir...)


Nach oben
 Profil  
Mit Zitat antworten  
 Betreff des Beitrags:
BeitragVerfasst: 07.03.2007, 16:46 
Offline
Richard's purrrfect transylvanian bat
Benutzeravatar

Registriert: 04.12.2006, 23:26
Beiträge: 2048
Wohnort: Ruhrgebiet
- @ Doris, Du hast mich doch sooooooooo neugierig gemacht, aber jetzt platzt mein Kopf erst richtig -

doris-anglophil hat geschrieben:


“Meine liebe Frau Jungheim, sie verlangen da Ungeheuerliches von mir. Das sind Ausnahmeregelungen, die nur sehr selten zur Anwendung kommen. Mr. Prior – und das sage ich Ihnen nun, obwohl ich damit meine Schweigepflicht zum Teil verletze – leidet vermutlich auch unter Störungen des Sexualverhaltens und ich möchte Sie daher ausdrücklich warnen. Unter Entzug können ungeahnten Aggressionen auftreten und Ihre Sicherheit ist dann nicht gewährleistet. Bitte, halten Sie sich das immer vor Augen. Er könnte sich als unberechenbar und gefährlich erweisen. Ich habe Sie ausdrücklich gewarnt.



Ich bin begeistert von Doro, die hat einen Mut, einen wirklich so kranken Menschen, der für sie ganz unberechenbar ist, so zu vertrauen. Also ich könnte das nicht, wäre viel zu spektisch und hätte dazu noch eine höllische Angst. Angst das er einen Ausraster kriegen könnte, bei dem er mir furchtbar weh tun könnte.

_________________
Bild

created by Cuni


Nach oben
 Profil  
Mit Zitat antworten  
 Betreff des Beitrags:
BeitragVerfasst: 07.03.2007, 21:00 
Offline
Head of the MI5-writing section and expert for vampire studies
Benutzeravatar

Registriert: 04.05.2006, 10:10
Beiträge: 15500
Wohnort: Wetzlar
Schön, richtig schön, bin schon gespannt auf mehr! :wink:


Nach oben
 Profil  
Mit Zitat antworten  
 Betreff des Beitrags:
BeitragVerfasst: 07.03.2007, 22:31 
Offline
Lovelace's dearest creature
Benutzeravatar

Registriert: 21.10.2006, 15:38
Beiträge: 20027
Wohnort: Cottage-Garten
Mir gefällt es auch. :ja:

_________________
Bild


Nach oben
 Profil  
Mit Zitat antworten  
 Betreff des Beitrags:
BeitragVerfasst: 08.03.2007, 17:49 
Offline
Lucas' sugarhorse
Benutzeravatar

Registriert: 05.05.2006, 09:28
Beiträge: 15891
Wohnort: 7. Himmel
Wow! Doris, ich bin völlig begeistert! Grandios und sehr tiefschichtig...berührt mich sehr!

_________________
Bild
Bild
thx to Cuni


Nach oben
 Profil  
Mit Zitat antworten  
 Betreff des Beitrags:
BeitragVerfasst: 08.03.2007, 18:02 
Offline
Mill overseer & MM ambassador
Benutzeravatar

Registriert: 02.05.2006, 10:58
Beiträge: 24355
Wohnort: zu weit weg von der Glückseligkeit
Danke, ihr macht mich alle ganz verlegen, echt... Bild

Erkläre später (wenn die Story fertig ist) wahrscheinlich noch etwas zu den (privaten) Zusammenhängen.

_________________
No, I can't, really... (MMs Antwort auf eine "freche" Frage von mir...)


Nach oben
 Profil  
Mit Zitat antworten  
 Betreff des Beitrags:
BeitragVerfasst: 08.03.2007, 19:41 
Offline
Severus Snapes Vampirfrau & Josef Kostans PR-Manager
Benutzeravatar

Registriert: 17.12.2006, 10:45
Beiträge: 10608
Wohnort: Dungeon
Schöne Geschichte Doris.

_________________
Bild

Die größten Abenteuer finden in meinem Herzen statt!





Nach oben
 Profil  
Mit Zitat antworten  
 Betreff des Beitrags:
BeitragVerfasst: 09.03.2007, 16:06 
Offline
Mill overseer & MM ambassador
Benutzeravatar

Registriert: 02.05.2006, 10:58
Beiträge: 24355
Wohnort: zu weit weg von der Glückseligkeit
Heute geht es ein bisschen weiter mit Paul, ich wünsche ein intensives Leseerlebnis!

Teil 4

In der Gondel lehnte er erschöpft an der Glasscheibe und schloss die Augen. Natürlich hatte ihn keine Lawine überrollt. Doro hatte ihm versichert, dass man sich in einem absolut lawinensicheren Gebiet befand und die Sache mit dem Skilaufen fing langsam an, ihm Spaß zu machen. Doch es war anstrengend, insbesondere, wenn der Körper gleichzeitig noch extrem mit der Entgiftung zu tun hatte. Er fröstelte, anscheinend schon beim bloßen Gedanken daran. Er schlug die blauen Augen auf und sah Doro an. Für den Bruchteil einer Sekunde sehnte er sich nach Nähe und Geborgenheit, aber das Gefühl war so schnell wieder vergangen, wie es aufgetaucht war.

Er würde, wenn er das nächste Mal an Jonathan schrieb, erwähnen, dass er nun Skilaufen gelernt hätte. Das würde den Jungen sicher begeistern. Er hatte ihm nur kurz vor Weihnachten eine Karte geschickt und da auch nicht mehr drauf geschrieben, als unbedingt notwendig: ‚Frohe Weihnachten, lass dich nett beschenken, viele Grüße, Paul’. Mehr hatte er beim besten Willen nicht zu Papier gebracht. Und das hatte ihn schon etliche Überwindung gekostet und war nur zustande gekommen, weil er sich zuvor mehrere Male Jonathans letzten Brief durchgelesen hatte. Der Junge würde nicht verstehen, wenn er sich gar nicht melden würde.

Sie stellten die Skier im Skikeller des Apartmenthauses ab, wo Doro ihre Wohnung hatte. Dann trank er noch schnell eine Tasse Tee bei ihr (wenigstens hatte sie nicht diesen ekelhaften Früchtetee, den er so sehr verabscheute) und legte die vom Skifahren schwer gewordenen Beine kurz auf ihrem Sofa hoch. Kaum zu glauben, dass er sich gestern an gleicher Stelle so furchtbar elend gefühlt hatte. Er fühlte sich ganz anders heute, müde zwar, aber nicht so – krank.

Wenn er pünktlich zum Abendessen in der Klinik sein wollte, sollte er sich bald auf den Weg machen. Er wollte es sich nicht gleich am ersten Abend seiner neu gewonnenen Freiheit mit der Klinikleitung verscherzen. Also stand er seufzend auf: „Ich muss jetzt wohl gehen, sonst wird es knapp. Ich glaube, das Skifahren tut mir echt gut. Wenn ich es je lernen werde.“ Er lachte kurz auf.
Sie lächelte ihn an: „Ja, es war schön heute, und es freut mich, dass es dir gefallen hat.“

An der Tür, als er bereits in seinen alten Parka geschlüpft war, denn die Skiklamotten blieben bei Doro in der Wohnung, schluckte er und wagte es dann doch, zu fragen: „Gibt es wieder Küsschen zum Abschied?“ Er kam sich blöder als ein Vierzehnjähriger vor.
Sie schaute in seine blauen Augen und antwortete: „Nur, wenn du es möchtest!“

Er zog die Stirn in Falten: „Ich dachte, das verstünde sich automatisch so mit meiner Frage?“
„Nein, du solltest schon direkt darum bitten können.“
Er stieß hörbar die Luft aus. „Ich glaube, das kann ich nicht.“
“Versuch’ es! Bitte!“

Es fiel ihm unendlich schwer, es nicht zu umschreiben, sondern direkt danach zu bitten. Er dachte, er würde es nie herausbringen, stand minutenlang schweigend im Flur. Sie gab nicht nach, bedrängte ihn aber auch nicht. Sie stand nur da, an die Tür gelehnt und blickte an einen imaginären Punkt an der Wand.

Die Zeit verstrich. Er musste gleich gehen, sonst würde er zu spät kommen. Der Druck in ihm wuchs und baute sich auf. Wenn er dem doch nur ausweichen könnte, einen Schluck Cognac oder einen Schnaps jetzt trinken könnte. Doch da gab es nichts. Nichts, was ihm helfen konnte. Helfen konnte er sich nur selbst.

Er atmete ein, dann: „Doro, ich möchte gerne, dass du mir einen Abschiedskuss gibst.“ Ein nie gekannter Schwindel erfasste ihn, er sackte in die Knie, aber er hatte es gesagt!
Sie beugte sich runter zu ihm, und drückte ihm ihre Lippen auf die erhitzte Stirn. Er riss die Augen auf, es war ihm, als wäre dies der allererste Kuss überhaupt in seinem Leben. Er richtete sich auf, drückte die Türklinke nach unten und sagte dann, heiser vor Aufregung: „Es… es ist schön, danke!“ Er ging und schloss die Tür hinter sich.

Der nächste Tag brachte leider schlechtes Wetter. Es hatte sich in der Nacht bewölkt und am Vormittag hatte es zu schneien angefangen. Nicht viel, aber es war eben kein schönes Wetter zum Skifahren. Besorgt betrachtete Doro den Himmel. Mit einem Entzugspatienten bei diesem Wetter auf den Berg zu fahren, ob das eine gute Idee war? Aber sie wollte die gemeinsame Zeit mit Paul so gut nutzen, wie es ihr irgend möglich war, also stand sie am Fenster und schaute in das Schneetreiben kurz nach Mittag, um zu sehen, wie er von der Klinik die Strasse herunter zu ihrem Haus gelaufen kam. Und da war er auch schon, große Schritte in den Stiefeln machend, die er gestern im Zuge der Wintereinkleidung gleich mitgekauft hatte. Er hatte eine Wollmütze auf dem Kopf, die bereits weiß vom Schnee war.

Er winkte, als er sie am Fenster erblickte. Sie winkte kurz zurück. Ein Deja-vu durchfuhr ihn: So hatte er vor einigen Monaten Penny auch einmal zugewinkt, auch sie hatte am Fenster ihres Hauses gestanden und er unten auf der Straße. Er fühlte, wie ihn alle Euphorie plötzlich verließ.

Mutlos ließ er den Kopf sinken. Was sollte der ganze Mist mit dem Skifahren, wenn ihn die Vergangenheit doch immer wieder, bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit, einholte? Er wartete zitternd an der Kellertür, bis Doro ihm öffnete. Sie strahlte über das ganze Gesicht, merkte aber sofort, dass die Stimmung bei Paul nicht gut war. Sie zog ihn in den Keller und hieß ihn sich auf den Hocker setzen. Dann ging sie vor ihm in die Knie, nahm seine beiden Hände in die ihren, was er ohne Reaktion zuließ, und fragte: „Paul, was gibt es? Geht es dir nicht gut?“

Er blickte nicht auf, schaute stur weiter auf den Boden, dann murmelte er: „Müssen wir bei diesem Scheißwetter zum Skilaufen? Es ist richtig eklig, ich friere mir echt den Arsch ab.“
Das konnte es nicht alleine sein, das merkte sie. Sie kam nur schwer an ihn ran, aber sie versuchte es: „Schau, wir haben ohnehin nicht sehr viel Zeit, nur noch heute und weitere drei Tage. Und so doll schneit es auch gar nicht, da hab’ ich schon Schlimmeres gesehen. Und du hattest doch gestern viel Spaß, oder? Hast du eigentlich Muskelkater?“

Er nickte, antwortete aber nicht. Sie hielt ihm wortlos seine Skihose und den Anorak hin. Mit einer wütenden Geste riss er ihr die Sachen aus der Hand. Puh, er war echt aggressiv heute, hoffentlich wurde das nicht schlimmer. Schweigend zog er sich an und schlüpfte zum Schluss in die Skischuhe.

In der Gondel waren sie alleine, bei dem Wetter gingen nicht viele Leute nach oben, und den größeren Schwung von wartenden Skifahrern hatte gerade die Gondel vor ihnen mitgenommen. Doro versuchte, ein Gespräch zu beginnen: „Hast du eigentlich Familie in Neuseeland?“

Er blickte sie giftig an, biss sich auf die Lippen und presste dann gequetscht hervor: „Ja, schon.“
„Ah, schön“, ließ sich Doro vernehmen.
„Wie man’s nimmt“, knurrte er leise.
Da stimmte wohl etwas nicht, das war recht offensichtlich. „Wann hast du die Verwandtschaft zum letzten Mal gesehen? Bist du oft in der Heimat?“
Er schlug mit der Faust gegen die Kabinenwand: „Ich habe keinen Bock, mit dir über meine Familie zu reden. Es ödet mich an, okay?“
„Schon gut. Wenn du es nicht möchtest, lassen wir es eben. Ich dachte nur… ach egal.“ Doro hatte offensichtlich in ein Wespennest gestochen.

Sie fuhren diesmal in langsamen Bögen zu ihrem gestrigen Übungsplatz. Das Bremsen klappte nicht so gut bei ihm, er legte sich daher einfach hin. Doro lachte: „Gut, dann werden wir heute mit dem starken Pflug bremsen üben. Und wenn du das kannst, hängen wir vielleicht den Einkehrschwung noch dran.“ Sie ergänzte: „Darauf darfst du dann gespannt sein!“ Er verzog das Gesicht zu einer unwilligen Grimasse und stand auf.

Dadurch dass die Sonne fehlte, wurde es auch früher dunkel. Der Schneefall hatte zwar aufgehört, aber die Wolken hingen sehr tief über den Berggipfeln. Richtige Fetzen, regelrechte Wolkenschwaden zogen umher. Pauls Laune hatte sich nur unwesentlich gebessert, es war ihm heute alles zu viel. Doro brach ab, nachdem er zumindest einige Male bravourös gebremst hatte. Das musste für heute reichen.

„So, und nun noch der Einkehrschwung, wie versprochen!“ Sie grinste.
Er verzog das Gesicht, wohl zum zigsten Mal an diesem Nachmittag: „Muss das denn sein? Ich habe keine Lust mehr.“
„Es wird dir gefallen, das garantiere ich. Wir schnallen die Skier ab und laufen ein wenig den Hügel hoch, dann steigen wir wieder in die Bindung und fahren eine ganz kurze, einfache Strecke und am Ende zeige ich den Einkehrschwung.“

Er murmelte Unverständliches, während er mit den Brettern auf der Schulter nach oben stapfte. Doro hatte die Skier bereits wieder an ihren Füßen, als er schnaufend neben ihr stehen blieb: „Doro, ich finde das voll für’n Arsch heute, echt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir das alles morgen wieder antun soll. Ich glaube, ich bin kein Typ für den Wintersport. Sorry, aber so ist es nun mal.“

Sie wurde nun langsam auch sauer. Dem Kerl war ja wohl nichts recht zu machen. Sie wandte sich ihm frontal zu und schnauzte: „Okay, ich hab’s kapiert. Aber eines sage ich dir: Ich habe mich gerne für dich eingesetzt, aber wenn dir der Malkurs in der Klinik lieber ist, von mir aus! Und nun kannst du es halten, wie du willst. Ich fahre jetzt dort runter, ob mir dir oder ohne dich. Und den Einkehrschwung kannst du dir dann in deinen blasierten Hintern stecken!“ Sie stieß sich mit den Skistöcken kurz ab und schwebte dann gekonnt über den Schnee.

Er war verblüfft. Dann beeilte er sich, in die Bindung zu kommen und fuhr ihr unsicher, wackelig und äußerst langsam hinterher. Auf halbem Weg stand sie am Hang und hielt nach ihm Ausschau. Als er einigermaßen heran gekommen war, legte sie die letzten Meter zu der sich bereits in Sichtweite befindlichen Hütte langsamer zurück.

Mit einem eleganten Manöver bremste sie und sah ihm entgegen. Er bremste deutlich weniger elegant. Dann klickte sie aus den Skiern und sagte ruhig: „Na bitte, das war der Einkehrschwung, nämlich der letzte Schwung vor der Skihütte, der Jausenstation, wohin der Skifahrer nach erfolgreicher sportlicher Betätigung einkehrt. Das machen wir nun auch.“

Sie saßen an einem Platz am Kaminfeuer, was sehr gemütlich war und glücklicherweise dazu beitrug, die Stimmung etwas zu entkrampfen. Sie hatten beide eine heiße Schokolade vor sich stehen, jedoch war Paul ganz und gar nicht gesprächig. Er wollte sich gerne ausdrücken, wusste, dass der Tag nicht sonderlich gut verlaufen war, aber er brachte es nicht fertig, dies in Worte zu fassen. Doro ließ ihm Zeit. Sie wusste, irgendetwas würde kommen, irgendwann. Er trank den Kakao in kleinen Schlucken, hielt sich an der Tasse fest.

Doro verschwand für einen Augenblick zur Toilette. Er stellt die Tasse ab und fuhr sich fahrig durch die Haare. Was sollte er sagen? Was tun, wenn Doro wieder da war?

Als sie zurückkam, setzte sie sich nicht wieder auf ihren Platz gegenüber von ihm, sondern wollte auf der Bank wo er saß weiter Richtung Feuerstelle Platz nehmen. Sie quetschte sich kurzerhand an ihm vorbei. Er schloss die Augen, es wurde ihm schon wieder fast zuviel, doch dann fühlte er plötzlich ihre Hände auf seinen Schultern. Sie hielt sich dort sehr fest, weil sie mit den unförmigen Skistiefeln nicht so gut vorankam. Er legte einfach eine Hand auf ihre Hüfte, um sie weiter zu schieben. Von einer kleinen Entfernung aus betrachtet, sahen sie beide wie ein Paar aus, das sich gerade umarmen wollte.

Er öffnete die Augen und sah sie direkt an, ein schräges Lächeln lag auf seinen Lippen. Dann, als sie schließlich neben ihm saß, beugte er sich zu ihr und lehnte, noch immer ohne zu reden, einfach seinen Kopf an ihre Schulter. Das war das Signal, auf das sie seit geraumer Zeit gewartet hatte. Sie hob eine Hand und strich ihm sanft und ruhig durch sein Haar. Keiner von ihnen verlor auch nur ein Wort.

Die Rückfahrt in der Gondel verlief ebenfalls schweigend, aber das war nicht weiter tragisch, da einige andere Leute mit zu Tal fuhren. Erst in der Talstation brach er das Schweigen: „Ich gehe direkt in die Klinik, es ist schon fast sechs.“
„Aber du hast die Skisachen noch an und deine anderen Klamotten bei mir“, wandte sie ein.
„Ich weiß. Blöd. Dann komme ich morgen direkt in der Skikleidung zu dir, okay?“
Sie nickte: „Wird dir nichts anderes übrig bleiben, wenn du überhaupt morgen kommst.“
„Nur, wenn nicht mehr so ein Scheißwetter ist! Ich muss schnell los, sonst kriege ich Ärger.“

Kein Wort über den Moment der Intimität in der Hütte, kein Wort des Dankes, kein Wort über Gefühle überhaupt. Als sie ihm nachblickte, wie er die Dorfstraße entlang ging, ein bisschen schlingernd wegen der Skischuhe an seinen Füßen, kam sich diesmal Doro wie ein Versager vor. Wie konnte man seinen Panzer knacken? Es schien auch ihr nicht gelingen zu wollen. Drei Tage blieben ihr noch.

Paul ging es kaum einen Deut besser. Er wusste, er hatte Fehler gemacht. Mal wieder. Es wäre doch nur noch ein winziger Schritt gewesen, hätte er nur den Mund aufgemacht. Es war wie verhext! Eines war ihm allerdings inzwischen klar: Sein Heil lag nicht unbedingt direkt in der Klinik. Vermutlich hatte ihm der Himmel Doro geschickt. Wenn man denn an derartigen Unfug glaubte.

Was ihn schon wieder, verflucht noch mal, an seine Mum und an Penny erinnerte. Die beiden mit ihrem allmächtigen, unerschütterlichen Glauben. Was hatte ihnen die ganze Beterei und Gläubigkeit, um nicht zu sagen Frömmigkeit, genützt? Absolut nichts! Die eine hatte sich eine Kugel in den Kopf gejagt, die andere hatte, streng genommen, ein Menschenleben auf dem Gewissen.

Und wie immer, wenn ihn die Erinnerung übermannte, wurde ihm gehörig schlecht. Er hielt sich an einem Baumstamm fest und würgte eine schleimige Brühe heraus. Die Schokolade von vorhin, wunderbar!

Die Nacht kam und damit – fast wie programmiert – der Alptraum:

Er lebte auf der südlichen Hemisphäre, nun ja, verständlich. Aber er hatte keine Chance, auf die Nordhalbkugel zu gelangen. Rund um den Erdball war eine meterhohe, sehr dicke Glaswand um den Äquator gezogen. Aber er sah jenseits dieser Glaswand immerzu Doro auf der nördlichen Hemisphäre. Er konnte sie aber nicht hören, sie nicht riechen, oder fühlen, geschweige denn mit ihr reden. Alles was möglich war, war der visuelle Kontakt. Es war zum Verzweifeln. Tagelang, wochenlang, monatelang lief er am Äquator entlang, rund um den gesamten Globus, um den Durchgang von Süden nach Norden zu finden. Seine Mühe war umsonst, er fand kein Tor, keine Tür, kein Schlupfloch. Er trommelte mit den Fäusten gegen das Glas, mit himmelschreiender Verzweiflung, aber nichts tat sich. Das Glas gab keinen Deut nach.

Diesmal schrie er nicht laut beim Aufwachen. Er lag zusammengekauert im Bett und weinte wie ein kleines Kind. Verdammt, verdammt! Warum konnte er hier, für sich alleine weinen, im stillen Kämmerlein, aber sobald andere Personen dabei waren, ging das alles nicht mehr? Was war mit ihm nur los? Er musste doch Gefühle haben, er musste doch fähig sein, irgendetwas zu spüren!

_________________
No, I can't, really... (MMs Antwort auf eine "freche" Frage von mir...)


Nach oben
 Profil  
Mit Zitat antworten  
 Betreff des Beitrags:
BeitragVerfasst: 09.03.2007, 16:08 
Offline
Squirrel's finest hidden treasure

Registriert: 17.11.2006, 22:05
Beiträge: 5818
Wohnort: Mittelrhein
Der Alptraum!! Nur genial!!!


DANKE!! :dankeschön:

_________________
Bild


Nach oben
 Profil  
Mit Zitat antworten  
 Betreff des Beitrags:
BeitragVerfasst: 09.03.2007, 17:10 
Offline
Lucas' sugarhorse
Benutzeravatar

Registriert: 05.05.2006, 09:28
Beiträge: 15891
Wohnort: 7. Himmel
*schnüff* wow...bin zu mehr grad nicht fähig, leide mit Paul und Doro mit...

_________________
Bild
Bild
thx to Cuni


Nach oben
 Profil  
Mit Zitat antworten  
 Betreff des Beitrags:
BeitragVerfasst: 09.03.2007, 22:41 
Offline
Head of the MI5-writing section and expert for vampire studies
Benutzeravatar

Registriert: 04.05.2006, 10:10
Beiträge: 15500
Wohnort: Wetzlar
Wahnsinn, toll geschrieben, Doris, ich glaube, das ist deine beste und tiefgehendeste Geschichte bisher. Bin begeistert, wie du das rüberbringst.


Nach oben
 Profil  
Mit Zitat antworten  
 Betreff des Beitrags:
BeitragVerfasst: 09.03.2007, 23:49 
Offline
Lovelace's dearest creature
Benutzeravatar

Registriert: 21.10.2006, 15:38
Beiträge: 20027
Wohnort: Cottage-Garten
Ich bin auch immer noch begeistert von deiner Geschichte. :ja:

_________________
Bild


Nach oben
 Profil  
Mit Zitat antworten  
 Betreff des Beitrags:
BeitragVerfasst: 10.03.2007, 01:03 
Offline
Richard's purrrfect transylvanian bat
Benutzeravatar

Registriert: 04.12.2006, 23:26
Beiträge: 2048
Wohnort: Ruhrgebiet
Hui, das war hart - mega hart!
Ich hätte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dachte es würde immer schön langsam mit ihm aufwärts gehen. Aber das er so in sich zusammenfällt. Das er plötzlich jeden Kontakt, jede Hilfe von Doro ablehnt, oder sogar als störend empfindet ist schwer zu verdauen.

Das ist so emotionsgeladen geschrieben, das ich sprachlos bin. Und meine Taschentücher neben mir reichen nicht mehr aus.

Eine Stelle gefiel mir besonders gut. Das war mein kleiner Lichtblick. Der Funken Hoffnung, das Paul den Entzug doch schaffen kann.
Als er sich einfach still an Doro lehnt. Und sie Beide nur da sitzen und schweigen. Da fiel mir das Sprichwort ein: Schweigen ist manchmal mehr als 1000 gesprochene Worte

_________________
Bild

created by Cuni


Nach oben
 Profil  
Mit Zitat antworten  
 Betreff des Beitrags:
BeitragVerfasst: 12.03.2007, 15:26 
Offline
Mill overseer & MM ambassador
Benutzeravatar

Registriert: 02.05.2006, 10:58
Beiträge: 24355
Wohnort: zu weit weg von der Glückseligkeit
Ein weiterer Teil von Paul. Ich warne aber ausdrücllich die empfindsamen Seelen unter euch, dieser Teil ist kein Zuckerschlecken. Bitte genau überlegen, ob ihr es lesen wollt, oder nicht. Ich sage es lieber gleich, nicht dass ich hinterher für Heulkrämpfe oder Nervenzusammenbrüche verantwortlich gemacht werde...


Teil 5

Entschlossen stand er auf und suchte im Bad nach der kleinen Nagelschere. Taschenmesser, große Scheren und Rasierklingen waren in den Krankenzimmern nicht erlaubt. Aber diese winzige Nagelschere hatte er beim Taschendurchsuchen bei seinem Einzug in die Klinik gut verborgen. Zum Glück!
Er fand sie und stach sich ohne zu zögern mit voller Wucht mehrere Male in den Oberschenkel. Warum, warum, warum merkte er nichts? Das Blut quoll aus den kleinen Stichwunden hervor, aber sein Gefühl sagte ihm gar nichts. Er klappte die Schere auf und fuhr sich mit der kleinen Schneide den Oberschenkel entlang, ritzte sich eine etwa fünf bis sechs Zentimeter lange Wunde auf. Nichts! Dann, als er noch einmal zustach, hatte er das Bild von Doro vor Augen, wie sie sich am Nachmittag in der Hütte an ihm vorbei in die Ecke der Ofenbank gedrückt hatte. Ein rasender Schmerz durchzuckte ihn, als die Spitze der Schere sich in sein Fleisch bohrte.

Er unterdrückte einen lauten Aufschrei und blinzelte verwundert. Großer Gott, er hatte den Schmerz, den seine selbst zerfleischende Attacke verursacht hatte, bemerkt! Um völlig sicherzugehen, wollte er noch einmal zustechen, doch er traute sich plötzlich nicht mehr, die Angst vor dem Schmerz überwog auf einmal. Er ließ die kleine Schere ins Waschbecken fallen und schaute an sich herab. Der Fußboden im Bad war mit Blutstropfen übersät, in kleinen Rinnsalen lief es ihm am rechten Bein herab. Er nahm aus einer Reisetasche ein Päckchen mit Heftpflaster, tupfte das Gröbste an den Stich- und Ritzwunden mit Klopapier ab, wischt notdürftig den Boden auf und klebte an seinem Oberschenkel überall Pflaster drauf.
Taumelnd fiel er ins Bett. Er wollte einfach nur noch schlafen.

Die Schlechtwetterfront hatte sich verzogen, die Sonne lugte bereits früh am Morgen hinter den hohen Gipfeln hervor. Nach einer Pflicht-Sportstunde im Team, sie hatten Basketball gespielt, und einem halbwegs passablen Mittagessen, freute Paul sich nun direkt auf das Skifahren mit Doro. Er konnte kaum abwarten, in die wattierte Kleidung zu schlüpfen und sich auf den Weg zu ihrem Haus zu machen.
Unterwegs zog er ein Päckchen Zigaretten aus einem geschützten Mauervorsprung hervor, eines seiner kleinen Verstecke, denn natürlich wurde in der Klinik immer mal wieder kontrolliert, was die Patienten so in ihren Taschen und Schubladen versteckten. So hatte er sich dieses Netzwerk von Zigarettennachschub im Ort, in kleinen Winkeln und an abgelegenen Plätzen, geschaffen. Rauchend kam er bei Doro an der Kellertür an.

Aber trotz aller guten Vorsätze brachte er nicht mehr als ein „Hallo“ heraus, immerhin ließ er ein kleines Lächeln folgen.
„Hast du gut geschlafen?“
„Na ja, ging so“, antwortete er und drückte den Zigarettenstummel aus.

Nachdem die Gondelbahn sie auf Höhe gebracht hatte, wagte Doro es heute mit Paul zum ersten Mal auf richtigen Pisten zu fahren. Sie nahmen einen Sessellift, der sie noch ein Stück weiter hinauf transportierte und als sie oben angekommen waren, rückte Doro ihre Sonnenbrille zurecht und hielt ihre Skilehrer-Ansprache: „Also, wegen des angenehmen Wetters sind recht viele Skifahrer unterwegs. Du brauchst eigentlich nur deine Augen und Ohren offen halten und keine Angst zu haben. Fahr einfach so wie du kannst. Es ist eine einfache Abfahrt, aber daher sind eben auch viele Familien mit Kindern darauf unterwegs. Ich bemühe mich, mich deinem Tempo anzupassen, was wahrscheinlich nicht immer gehen wird. Wenn ich dir voraus bin, dann warte ich an einer Biegung oder unübersichtlichen Stelle auf dich, okay?“
Er nickte schwach, ein bisschen zitterten ihm nun doch die Knie, weil um ihn herum alles wuselte und lärmte. Das konnte er ohnehin nur schwer ertragen.
Doro klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter: „Keine Sorge, du machst das schon!“
Er nahm die Stöcke auf und fuhr los, steifbeinig und unsicher, aber er blieb aufrecht dabei, fiel nicht hin. Sie hingegen hatte Mühe, so langsam wie er zu fahren. Immer wieder war sie ihm ein klein wenig voraus.

Er sagte unterwegs: „Hey, du musst nicht auch so rumeiern wie ich. Bisher läuft es doch ganz gut, also nimm dir ruhig einen größeren Vorsprung, ich sehe dich so gerne perfekt den Hang hinunterdüsen, es sieht toll aus bei dir.“
Sie lachte und fuhr ihm davon, winkte über ihren Kopf, der Skistock flog dabei umher. Weiter unten kam sie an einer Kurve zum Stehen und schaute, wo er abgeblieben war. Da kam er mit breiter, unsicherer Skiführung, es sah wirklich noch sehr unprofessionell aus. Er sah sie dort stehen, und fühlte sich dabei fast wie ein Vogel. Dann rutschte er über eine Eisplatte, die er nicht gesehen hatte, sauste über eine größere Unebenheit, weil er die Kontrolle verloren hatte, wurde schnell und schneller und fuhr Doro in der Kurve über den Haufen

Er klammerte sich an irgendetwas, ohne zu wissen, was es war und kugelte, sich mehrere Male dabei überschlagend, weiter, bis ein Schneehaufen den rasanten Sturz abbremste. Die Bindung der Skier hatte sich glücklicherweise schnell gelöst, aber sein Kopf schlug einmal gegen etwas Hartes, vermutlich ein größerer Stein oder ähnliches, und er hatte eine Menge Schnee- und Eiskristalle im Mund. Er öffnete die Augen, blinzelte in die Sonne und sah, dass Doro unter ihm lag. Er hatte sich fest an sie geklammert und sie in keiner Sekunde des Sturzes losgelassen. Sein Kopf lag auf ihrer Brust, er gab einen Laut des Unmuts von sich und rutschte ein wenig nach oben. So sah er ihr ins Gesicht, aber sie rührte sich nicht.
Er bekam Panik: „Doro? DORO?“

Sie zog die Nase ein wenig kraus und stöhnte, kam aber über ein erstes „Aua“ nicht hinaus, weil Paul sich erleichtert über sie beugte, sie mit beiden Händen an den Schultern nahm und seine Stirn auf ihre sinken ließ: „Oh, welch ein Glück, ich dachte im ersten Moment, du wärst… ähm, ohne Bewusstsein.
Sie tastete nach seiner Schläfe, wo eine kleine Wunde klaffte, vermutlich von dem Stein, gegen den er mit dem Kopf gestoßen war. „Du blutest da“, sagte sie leise und nach einem Moment des Nachdenkens fügte sie hinzu: „Hast du dir etwas gebrochen?“

Er antwortete nicht, hatte noch immer seine Stirn an ihre gelehnt. Er kostete den Augenblick aus, das wurde ihm plötzlich bewusst. Er war durcheinander, wusste nicht, ob dies wegen des Sturzes oder wegen der so massiv einsetzenden Gefühle, die ihn geradezu überschwemmten, so war. Dann bewegte er seinen Körper, seine Gliedmassen, und da alles einigermaßen zu funktionieren schien, löste er sich ein klein wenig von ihr und sagte dann mit Nachdruck: „ Ich glaube, ich sollte endlich mal ausführlich mit dir reden. Fahren wir ins Dorf?“

Doro kroch auf allen Vieren zu ihren Skiern, stand auf, und blickte beim Einklicken in die Bindung zu ihm rüber: „Ich muss dann die Klinik anrufen, dass du heute nicht mehr nach Hause kommst.“
Er erwiderte nichts, schaute sie nur weiter an.
Sie warf ihm einen seiner Skier zu, deutete mit der Hand auf den anderen, der weiter unten lag: „Los, Beeilung.“
Er rutschte zu dem zweiten Ski und war dann bereit, den Rest der Abfahrt anzutreten.

Nach sehr vorsichtiger Fahrt kamen sie an der Bergstation der Gondelbahn an. Sie nahmen die nächste Gondel, die sie ins Tal brachte, sich immer wieder fixierend. Als der Handyempfang einigermaßen funktionierte, rief sie noch während der Fahrt in der Klinik an: „Dr. da Silva bitte. Hier ist Doro Jungheim“, und nach einem Blick auf ihr Gegenüber fügte sie hinzu „und Paul Prior. Er ist nicht erreichbar? Gut, dann möchte ich, dass sie ihm folgendes ausrichten: Mr. Prior wird heute nicht mehr in die Klinik zurückkehren. Das ist so mit Dr. da Silva vereinbart, er weiß dann schon Bescheid. Aber bitte, vergessen Sie es nicht, danke!“ Sie schaltete das Handy ab, die Gondel war in der Talstation angekommen.

Auf dem Weg zu ihrem Haus gingen sie noch schnell im Supermarkt vorbei und kauften für ein Abendessen ein. Paul hatte sich Käsespätzle und Salat gewünscht, er fand, dass die alpenländische Küche durchaus ihre guten Seiten hatte. Statt Rotwein nahmen sie Apfelschorle und Waldfruchtschorle mit. Außerdem eine leckere Eisbombe zum Nachtisch.

An der Wohnungstür zögerte er merkwürdigerweise beim Eintreten. Er kam nun unter völlig anderen Voraussetzungen zu ihr. Nicht mehr als Zufallsbekanntschaft, nicht mehr als Begleiter für den Skisport, er hatte nun einen anderen Status. Aber welchen? Er war sich nicht sicher. Wohin würde das alles führen? Er wusste nur, er wollte ihr alles erzählen. Vorbehaltlos. Was danach sein würde – egal! Es musste raus aus ihm und er spürte instinktiv, dass Doro die Person seines Vertrauens war.

Er hockte auf dem Sofa, während sie einen Tee aufbrühte. Er kam sich, obwohl sie nur wenige Meter von ihm entfernt in der Küchenzeile stand, sehr verloren vor. Er drückte die Tasten der Fernbedienung und schaute in die Glotze. In der Klinik gab es keine Fernsehgeräte und hier war es eigentlich auch Blödsinn, da die Sendungen alle auf Deutsch waren. Er wollte sich nur ablenken. Er war sehr nervös, wie würde sie auf all die Enthüllungen reagieren? Er konnte nur hoffen, dass sich an ihrem Verständnis, ihrer positiven Einstellung ihm gegenüber nichts ändern würde. Das wäre fatal für ihn. Er hatte richtiggehend Panik vor dem, was nun kommen würde. Sie brachte den Tee und er stellte den Fernseher aus. Als könnte sie Gedanken lesen, sagte sie, nachdem sie sehr dicht neben ihm auf dem Sofa Platz genommen hatte und er bereits einen Hauch ihrer Wärme spürte: „Hör mal, ganz egal, was auch immer bei dieser Plauderstunde herauskommen mag, du bist ein ganz wundervoller Mensch und ich mag dich sehr. Selbst wenn du meinst, mir schlimme Dinge verheimlichen zu müssen, mich aus unerfindlichen Gründen nicht daran teilhaben lassen möchtest, bitte tue es nicht! Ich versichere dir, dass ich das Vertrauen, das du in mich setzt, immer rechtfertigen werde und bitte, halte mit nichts hinter dem Berg, ich mag dich jetzt, ich mochte dich vor zwei Tagen und ich werde dich morgen auch noch mögen. Okay?“

Er nippte an dem Tee, fand ihn unerhört heiß und hätte sich beinahe die Lippen daran verbrannt. Er forschte noch einmal in seinem Inneren nach. Ja, er hatte Empfindungen, mehr als je zuvor. Er zog einen Mundwinkel nach oben und wollte gerade anfangen zu sprechen, da rückte sie noch enger an ihn heran: „Paul? Bevor du anfängst, möchte ich dich gerne umarmen, darf ich das?“
Er nickte ganz langsam. Zwei Arme umfingen ihn, zogen ihn langsam in eine vertikale Position, bis er direkt neben ihr auf dem Sofa lag. Er nahm seine Beine hoch und streckte sich komplett aus. Sein Herz schlug laut, aber ruhig und regelmäßig. Er konnte jetzt unmöglich anfangen zu reden, weil ihn die Situation überforderte. Aber nicht im negativen Sinne. Heiße Tränen rannen über seine leicht stoppeligen Wangen. Sie wischte sie ihm nicht weg, hielt ihn einfach nur fest, mehr nicht.

Nach einer Weile fing er an: „Ich habe in Neuseeland einen Bruder, eine Schwägerin und einen Neffen. Meine Eltern leben nicht mehr. Meine Mutter ist vor fast achtzehn Jahren schon gestorben, unter sehr dramatischen Umständen, auf die ich nachher sicher noch zurückkommen werde, mein Vater vor wenigen Monaten erst. Zur Beerdigung von Dad bin ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder zu Hause gewesen. Ich war davor siebzehn Jahre lang weg, hatte eigentlich keinen Kontakt mehr zur Familie…“

Einige Male musste das Gespräch unterbrochen werden, weil einer von ihnen mal aufs Klo musste, oder weil es einfach gut tat, eine Pause zu machen, da sonst die Emotionen gar nicht hätten verarbeitet werden können. Sie kochten gemeinsam, sie schabte gekonnt den Spätzleteig in das heiße Salzwasser, er hingegen brachte nur unförmige Klumpen dabei zustande. Es entspannte die Situation erheblich, weil es ablenkte und beide lachen konnten. Er war für das Salatdressing zuständig. Sie konnte eine spitze Bemerkung nicht unterdrücken, als sie ihm zurief: „Hey, aber heute bitte kein Kokain an die Salatsoße!“ Er drohte ihr mit dem Salatbesteck, endlich hatte er einen lockeren Umgangston gefunden: „Wo denkst du hin, Kokain ist viel zu teuer. Ich habe ein bisschen Valium genommen, damit du mir nachher nicht so anstrengend wirst.“ Sie bog sich vor Lachen, hielt sich an seinen breiten Schultern fest, er stimmte mit ein, so ansteckend war ihr Gelächter.

Beim Essen wollten sie nicht über seine Probleme reden, also hielten sie sich an allgemeine Themen.
Mit Genuss leckte er das Eis restlos vom Teller. Ein gutes Zeichen, fand er. Sie dachte dies ebenfalls.
Zuletzt, vor dem gemeinsamen Kochen, hatte er aus seinem Berufsleben erzählt. Von Erlebnissen, die wahrscheinlich keiner seinem ärgsten Feind wünschen würde. Unglaubliche Massaker, schreiende Not, Verzweiflung, Elend und Tod.
Sie hatte zwar berührt, aber nicht übertrieben betroffen auf seine Horrorberichte reagiert, sich alles relativ gelassen und ruhig angehört. Er fand das äußerst wohltuend und war ihr dankbar für diese normale Haltung.

Doch als sie dann beide wieder auf dem Sofa saßen, kam er nur noch einmal kurz auf den Beruf zurück. Er stellte fest, dass die meisten Kollegen so viel mit sich selbst zu tun hatten, dass sie für die Belange und Probleme anderer einfach keine Zeit hatten. Er selbst bildete da natürlich keine Ausnahme. Er hatte nur selten in einem Team arbeiten müssen, meistens war er auf sich alleine gestellt. In extremen Krisensituationen war er sowieso immer ein Einzelkämpfer gewesen.
Gut, als er unlängst von Neuseeland nach London zurückkehrte, hatten ihm Kollegen diese Klinik für seine anstehende Therapie empfohlen. Aber die vermeintliche Freundlichkeit und Kollegialität war nur sehr oberflächlich und aufgesetzt.

Er machte eine kurze Pause und blickte mit unsicherem Blick zu Doro hoch, denn er lag mit seinem Kopf auf ihrem Schoß. Sie hatte ihn während seiner Berichte zu nichts gedrängt, hatte allenfalls hier und da sachliche Zusammenhänge erfragt.
Nun aber deutete sie seinen Blick richtig. „Ein Kuß?“
Er verzog den Mund zu einem angedeuteten Lächeln: „Hey, woher weißt du das denn?“
„Das sehe ich an deinem bettelnden Blick, mein Lieber!“ Sie neigte den Kopf und küsste ihn auf seine knubbelige Nasenspitze. Sein Lächeln wurde ein gutes Stück breiter.
Doch sie schaute ihn ernst an: „Okay, es ist ja nicht so, dass ich dir nicht gerne zu Diensten wäre, aber ich würde ganz gerne mal was von dir zurück haben. Wenn es dir möglich ist. Kannst du dir vorstellen, dass ich auch mal von dir geküsst werden möchte?“

Sein Blick driftete weg, er kniff die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen: „Ich kann es mir nur schwer vorstellen, ehrlich gesagt. Ich kann dir das noch nicht geben, leider.“
Ihre Finger fuhren durch seine Haare, langsam und zart. Er atmete durch und wusste, dass es an der Zeit war, seine sexuellen Probleme zu schildern.


_________________
No, I can't, really... (MMs Antwort auf eine "freche" Frage von mir...)


Nach oben
 Profil  
Mit Zitat antworten  
Beiträge der letzten Zeit anzeigen:  Sortiere nach  
Ein neues Thema erstellen Auf das Thema antworten  [ 747 Beiträge ]  Gehe zu Seite Vorherige  1 ... 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10 ... 50  Nächste

Alle Zeiten sind UTC + 1 Stunde


Wer ist online?

0 Mitglieder


Du darfst keine neuen Themen in diesem Forum erstellen.
Du darfst keine Antworten zu Themen in diesem Forum erstellen.
Du darfst deine Beiträge in diesem Forum nicht ändern.
Du darfst deine Beiträge in diesem Forum nicht löschen.

Suche nach:
cron
Powered by phpBB® Forum Software © phpBB Group



Bei iphpbb3.com bekommen Sie ein kostenloses Forum mit vielen tollen Extras
Forum kostenlos einrichten - Hot Topics - Tags
Beliebteste Themen: Audi, TV, Bild, Erde, NES

Impressum | Datenschutz