Heute wieder ein bisschen ein Häppchen von Paul Prior, bittesehr:
Teil 3
Paul stand sekundenlang regungslos an der Eingangstür und versuchte, den fast übermächtigen Reflex nach einer Zigarette, besser noch nach einem Joint, niederzukämpfen. Dafür fuhr er mit den Fingern über die Stelle auf seinen Wangen, wo ihn ihre Lippen berührt hatten. Gemerkt hatte er in dem kurzen Moment nicht viel davon, doch jetzt im Nachklang war ihm plötzlich, als empfinde er eine gewisse Wärme genau dort. Er schloss die Augen, atmete tief durch und machte sich klar, dass er keinen Joint brauchen würde, wenn er von dem zehren konnte, was Doro ihm hinterlassen hatte. Der Zivildienstleistende sprach ihn unvermittelt an, daher zuckte er beim Klang der Stimme hinter ihm zusammen: „Mr. Prior, ich muss nun die Eingangstür absperren. Kommen Sie bitte mit rein. Gute Nacht dann, Mr. Prior.“
Das tosende Geräusch, fast wie Meeresrauschen, nur intensiver, hörte er bevor er sah, was es verursachte. Suchend blickte er sich um, um die Ursache des Lärms auszumachen. Als er die staubende, sich mehr und mehr aufbauende weiße Schneewand auf sich zurasen sah, wusste er, dass alles zu spät sein würde. Er knallte hart auf den Boden, die Lawine überrollte ihn mit all ihrer Macht, wirbelte ihn einige Male hoch und runter, riss ihn eine Weile mit sich und begrub ihn dann endgültig unter sich, deckte ihn mit ihrem kalten, weißen Leichentuch zu. Er spürte sofort, dass er ersticken würde. Er wollte den Mund aufmachen, um sich bemerkbar zu machen, zu schreien, hatte aber sofort eine Unmenge Schnee zwischen den Zähnen. Er würde unter den Schneemassen elend verrecken, das war ihm nun klar. Er bekam bereits jetzt schon keine Luft mehr…
Paul schrie aus Leibeskräften und krallte seine langen, kräftigen Finger in die Matratze, bis jede der Sehnen einzeln sichtbar wurde. Sein Herz raste vor Angst. Die Tür wurde von außen rasch geöffnet und ein Pfleger trat in den Raum: „Na Mr. Prior, mal wieder schlecht geträumt? Sie wecken ja das halbe Haus auf mit Ihrem Gekreische, meine Güte.“ Fantastisch, in der Situation hatte man einen ‚sensiblen’ Pfleger wie diesen Herrn so nötig wie einen Kropf. Gab es in dieser Scheißklinik denn gar kein qualifiziertes Personal? Abgesehen von Dr. da Silva, der aber natürlich nicht nachts im Haus herumrannte, um durchdrehende Patienten zu beruhigen.
Er richtete sich halb im Bett auf und blinzelte verkniffen in das Licht der Taschenlampe: „Schon gut, Hannes, ich denke, es wird mir gleich besser gehen.“ Der Pfleger nickte: „Möchten Sie kurz ins Badezimmer, vielleicht ein bisschen kaltes Wasser ins Gesicht spritzen?“ Paul nickte und kroch zitternd aus dem Bett. Der Pfleger warf ihm einen Bademantel über und stützte den Patienten am Ellbogen, half ihm die wenigen Schritte ins Bad hinein. Der Wasserhahn lief und verbreitete ein ähnlich tosendes Geräusch wie die Lawine im Traum. Paul schreckte zurück, total blass im Gesicht. Dennoch brachte er es fertig, unterstützt von Pfleger Hannes, sich eine Handvoll Wasser über das erhitzte Gesicht laufen zu lassen. Doch das Wasser war kalt, sehr kalt sogar und erinnerte ihn an den Berg von Schnee, der sich im Traum über ihn gelegt hatte.
So schnell es ging, taumelte er zurück ins Bett. Sorgfältig legte der Pfleger den Bademantel gefaltet über einen Stuhl, ach ja, für derartigen Kram hatte man Zeit hier. „Gute Nacht, Mr. Prior.“ Das war alles, die Tür hatte sich bereits wieder geschlossen.
Paul konnte nicht wieder einschlafen, das war fast klar. Er versuchte, den Alptraum abzuschütteln, versuchte, an Doro zu denken. Doch dann fiel ihm ein, dass sie ja eventuell zusammen auf die Skipiste wollten und was wäre, wenn ihn die Lawine da erwischte? Er hockte kerzengerade im Bett. Scheiße, elende!
Er hatte zwischen Artilleriefeuer und Bombenhagel gelernt, mit recht wenig Schlaf auszukommen, aber da hatten ihm immer mal wieder gewisse Hilfsmittelchen über schwere Zeiten und besonders harte Phasen hinweg geholfen. Diese Mittelchen standen ihm hier nicht mehr zur Verfügung. Er hustete trocken, drehte sich zu seiner Nachtkonsole um und holte die gebündelten Briefe aus Neuseeland heraus. Er knipste seine Bettlampe an und fischte den ersten Brief aus dem Umschlag. Er mochte die Briefe von Penny eigentlich nicht lesen, sie erging sich wieder und wieder in endlosen Selbstanklagen, er hatte das Thema satt bis oben hin. Nur die Passagen, wo sie über den Fortgang der Dinge bezüglich Andrew schrieb und den Teil, den Jonathan in seiner halbkindlichen Schrift an seinen Onkel hinzufügte, las er genauer durch.
… es geht einigermaßen gut in der Schule. Miss Seagar achtet sehr auf mich, das ist nett von ihr. Diese Woche hatte ich wieder einen Termin beim Psyscholoken (er hatte das Fremdwort natürlich falsch geschrieben), der ist auch sehr nett. Wir machen immer erst ein paar Spiele und dann erzähle ich ihm, wie meine Woche war und wie ich mich fühle. Ich habe ihm von dir erzählt, aber ich denke, er wusste sowieso schon aus den Zeitungen und wegen dem ganzen Unglück von dir. Er hat mich gefragt, ob ich dich mag und ich habe gesagt: Klar mag ich Onkel Paul, er hat es ja so schwer, weil er so einen aufreibenden Job hat und er immer irgendwo sein muss, wo gerade Krieg ist. Na ja, und dann reden wir manchmal auch darüber, wie ich zu Mum und Dad stehe, vor allen Dingen, wo ich nun weiß, dass Dad den tödlichen Unfall von Celia Steimer verursacht hat – ach, ich kann darüber nicht schreiben, es ist vielleicht auch besser so, denn du willst das bestimmt auch gar nicht lesen, lieber Onkel Paul…
Das Kind hatte es instinktiv erfasst. Er wollte Augen und Ohren verschließen, nichts mehr davon hören, vor allen Dingen, da Jonathan ja nicht einmal die richtige Sicht auf die Dinge hatte und immer glauben würde, dass sein Vater Celia den Stoß über die Galeriebrüstung versetzt hatte. Obwohl es in Wirklichkeit der Ausraster von Penny gewesen war, der zum dem tödlichen Sturz geführt hatte.
Wieder und wieder erschienen Bilder vor dem geistigen Auge von Paul: Celia, wie sie sich auf der Straße vor der Obstplantage von ihm verabschiedete, ihre letzten Worte: „Es nuestro secreto – mach’s gut, Bruder!“ Er merkte, wie ihm die Tränen in Sturzbächen die Wangen herunter liefen, er schniefte und zupfte ein paar Kleenex-Tücher aus der Box auf dem Nachttisch. Warum, warum, warum! Das Leben war so sinnlos, so ohne Weg und Ziel für ihn. Wozu machte er eigentlich den Entzug? Er hatte niemanden, der sich um ihn sorgte, kümmerte. War es da nicht scheißegal, ob er seinen Körper langsam durch Rauschmittel zu Grund richtete oder durch eine Landmine in der Luft zerfetzt wurde? Es würde niemand zu seiner Trauerfeier erscheinen, abgesehen vielleicht von Miss Seagar und Penny und Jonathan. Würde Jackie kommen? Sehr fraglich. Andrew – ebenfalls fraglich. Er lachte höhnisch auf. Super! Eine Beerdigung mit drei Leuten an seinem Sarg. Wirklich, er brachte es zu hohen Ehren!
Während Paul Prior nach einem Frühstück, das in ihm wie fast jeden Morgen einen leichten Brechreiz auslöste, weil er sich zwang, den ekligen Früchtetee zu trinken und dann ein Croissant mit ein wenig Aprikosenmarmelade runterwürgte, völlig unmotiviert in seiner Maltherapie hockte, hatte Doro mit viel Durchsetzungsvermögen einen Termin beim behandelnden Arzt Dr. da Silva erwirkt. Erst wurde ihr gesagt, dass der Doktor sehr beschäftigt sei, aber als er am Rande mitbekam, dass es sich um sein Sorgenkind Mr. Prior handelte und die Dame sich nicht abwimmeln ließ, gewährte er ihr ein paar Minuten seiner kostbaren Zeit.
„Frau Jungheim, sind sie denn eine Verwandte von Mr. Prior? Das wäre natürlich ein wirklicher Glücksfall, vielleicht könnten Sie uns bei diesem Patienten ein wenig auf die Sprünge helfen, es wäre bitter notwendig, um einen Therapieerfolg zu erzielen.“ „Nein, ich kenne Paul erst sei kurzem, leider.“ „Schade, wirklich schade. So fällt natürlich alles komplett unter die ärztliche Schweigepflicht. Nun ja, was kann ich dennoch für Sie tun?“
„Ich möchte Sie bitten, Mr. Prior von einigen seiner Therapieverpflichtungen zu entbinden, damit er mit mir zum Skifahren gehen kann.“ „Bitte? Aber Frau Jungheim, das können Sie nicht ernst meinen! Das wird kaum möglich sein.“ „Soweit ich das mitbekommen habe, sperrt Paul sich gegen einige Therapien, sieht keinen Anlass dazu und keine Motivation darin, ist das richtig?“ „Ja, ich muss zugeben, dass wir da erhebliche Probleme haben, Mr. Prior ist sehr unkooperativ. Der für ihn zuständige Psychologe, Herr Eisenbach, kratzt nur an der Oberfläche herum, aber wirkliche Fortschritte sind keine zu verzeichnen. Herr Eisenbach ist mittlerweile soweit, dass er sagt, wenn Mr. Prior sich binnen einer Woche noch immer verschlossen zeigt, wird er ihm anraten, die Klinik zu verlassen. Wer nicht therapiert werden möchte, hat seinen Anspruch auf einen Platz hier leider verwirkt. So leid es uns tut.“
„Doktor da Silva, geben Sie mir eine Woche mit Paul und er wird sich der Therapie produktiv stellen!“ „Wie kommen Sie zu der Annahme?“ „Ich habe es im Gefühl. Ich denke, ich kann da einiges bewirken, ich hoffe es sogar sehr. Bitte!“ „Frau Jungheim, das ist ein ziemlich vages Fundament, auf das ich da bauen soll.“ „Was haben Sie zu verlieren? Noch weniger Mitarbeit als derzeit ist bei Paul kaum noch möglich, es kann also nur besser werden. Lassen Sie es mich versuchen.“
Der Arzt zögerte. Aber die Frau vor ihm hatte Recht. Man musste bei Paul Prior nun alles auf eine Karte setzen. Verlor man, war man nicht schlechter dran als jetzt, gewann man – fantastisch! Er holte tief Luft und sagte dann: „Also gut! Ich verspreche mir nicht allzu viel davon, aber lassen Sie es uns versuchen. Ich nehme Mr. Prior aus allen Nachmittagsterminen heraus, für - sagen wir fünf Tage. Zu den Mahlzeiten muss er jedoch im Haus sein, eine Ausnahme gewähre ich Ihnen und ihm, an einem Abend Ihrer Wahl darf er auch das Abendessen außerhalb einnehmen. Ist das in Ihrem Sinne, Frau Jungheim?“
Sie nickte zögerlich: „Ja, eine ungewöhnliche Bitte hätte ich noch!“ Der Arzt schaute sie fragend an: „Und die wäre?“ „Wenn Sie ihm ein Dinner mit mir gewähren, wäre es kontraproduktiv, ihn dann wieder für die Nacht in die Klinik zu bringen. Er soll sich an diesem Tag völlig frei und zwanglos fühlen.“
“Meine liebe Frau Jungheim, sie verlangen da Ungeheuerliches von mir. Das sind Ausnahmeregelungen, die nur sehr selten zur Anwendung kommen. Mr. Prior – und das sage ich Ihnen nun, obwohl ich damit meine Schweigepflicht zum Teil verletze – leidet vermutlich auch unter Störungen des Sexualverhaltens und ich möchte Sie daher ausdrücklich warnen. Unter Entzug können ungeahnten Aggressionen auftreten und Ihre Sicherheit ist dann nicht gewährleistet. Bitte, halten Sie sich das immer vor Augen. Er könnte sich als unberechenbar und gefährlich erweisen. Ich habe Sie ausdrücklich gewarnt. Wenn Sie nun trotzdem einverstanden sind, dann macht Ihnen das Sekretariat ein Schreiben fertig, in welchem Sie schriftlich bestätigen, dass ich Sie über die Risiken im Umgang mit dem Patienten hinreichend aufgeklärt habe. Bei unvorhergesehenen Vorkommnissen rufen Sie sofort die Klinik an, auch das wird Ihnen zur Auflage gemacht. Und nun müssen Sie mich wirklich entschuldigen, ich komme bereits zu spät zu meinem nächsten Termin. Viel Erfolg – und Sie halten mich auf dem Laufenden, ja?“
Damit war der Arzt verschwunden. Doro wartete auf das Schreiben, das ihr zwanzig Minuten später von einer Sekretärin vorgelegt wurde. Sie las sich die Auflagen und Warnungen mehrere Male durch, dann setzte sie schwungvoll ihre Unterschrift darunter. Dem Skivergnügen gemeinsam mit Paul stand nun nichts mehr im Wege.
Der Zivi kam auf Paul zu: „Hallo, Mr. Prior. Sie haben Besuch, die nette Dame von gestern sitzt in der Cafeteria und möchte mit Ihnen sprechen.“ Paul blickte von seinem Essenstablett auf und schaute den Zivi ungläubig an. Dann ließ er die Gabel klirrend auf den Teller fallen und sprang auf. Das Mittagessen interessierte ihn nicht mehr.
In der Besuchercafeteria saß Doro vor einem Pfefferminztee und einem Stück Käsekuchen. Sie hörte eilige Schritte hinter sich und als sie sich umdrehte, stand Paul vor ihrem Tisch. Seine große Gestalt warf einen regelrechten Schatten auf sie. Er versuchte sich in einem Lächeln, es ließ ihn jungenhaft wirken. „Was machst du hier?“ Er ließ sich auf dem Stuhl gegenüber von ihr nieder.
Sie schaute konzentriert auf ihren Kuchenteller: „Ich esse Kuchen und trinke einen Tee. Hallo Paul.“ Er lachte nervös: „Das sehe ich. Ich meine, gibt es einen bestimmten Grund, deinen Tee hier oben in der Klinik zu trinken?“ Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, stach mit der Gabel ein Stück Kuchen ab und schob es sich in den Mund. Paul trommelte unruhig mit den Fingern auf der Tischplatte herum. Nachdem sie gekaut und geschluckt hatte, antwortete sie: „Nein, eigentlich keinen. Aber da ich schon mal da bin, bitte…“ und mit diesen Worten schob sie ihm ein Schriftstück über den Tisch. Er nahm es auf und las:
"Hiermit entbindet die Klinikleitung, hier vertreten durch den behandelnden Arzt, Guiseppe da Silva, Mr. Paul Prior für die Dauer von fünf Tagen, beginnend mit dem (es folgte das genaue Datum) von allen Therapieverpflichtungen zwischen Mittagessen und Abendbrot. Weiterhin wird an einem Tag Mr. Prior kompletter Ausgang, inklusive einer Übernachtung außerhalb der Klinik gestattet. Der genannte Tag ist innerhalb der vereinbarten Frist frei wählbar. Mr. Prior verpflichtet sich jedoch, den Ort (hier las man den Namen des Ortes) nicht zu verlassen und sich stets in Begleitung von Frau Doro Jungheim aufzuhalten. Ein Abweichen von dieser Vereinbarung ist nicht zulässig und hat den unmittelbaren Abbruch der Therapie zur Folge. Weitere Vereinbarungen und Ausnahmen sind gegebenenfalls unverzüglich mit Dr. da Silva abzustimmen…"
Das Schreiben enthielt noch weitere Klauseln, doch das Wichtigste hatte Paul gelesen. Er ließ das Schreiben auf den Tisch sinken und starrte Doro sprachlos an: „Das kann ich nicht glauben. Wie hast du das gemacht? Warum hast du das gemacht?“ „Hör mal, wir haben nicht so super viel Zeit. Ich möchte heute noch sehen, wie du dich auf Skiern so machst, also erkläre ich dir alles auf dem Weg.“ Sie stand auf und zog den perplexen Paul am Ärmel seines Pullovers hinter sich her. Am Ausgang der Cafeteria merkte sie, wie der Ärmel lang und länger wurde, weil Paul einfach stehen geblieben war. Sie drehte sich um: „Mensch, was ist denn…“, aber sie kam nicht dazu, den Satz zu vollenden, denn er stand im Türrahmen und lachte lauthals. Zum ersten Mal sah sie ihn richtig aus vollem Halse lachen und sie fand, es stand ihm gut.
Zwei Stunden später stand er in der Gondelbahn neben ihr. Sie hatten ein Sportgeschäft und einen Skiverleih aufgesucht und ihn entsprechend winterfest und skitauglich ausgestattet. Er hatte das Gefühl, obwohl die Schnallen noch nicht fest geschlossen waren, in den Skistiefeln einzementiert zu sein. Großer Gott, und damit sollte man sich sportlich bewegen können? Nicht zu fassen!
Was ihn am meisten wunderte, war die Länge seiner Skier. Die in der Mitte schmaleren und an am vorderen und hinteren Ende breiteren Bretter gingen ihm nicht einmal bis zum Ohr. ‚Drehfreudiger’ wären sie so für ihn als Anfänger. Einfacher zu beherrschen, es handele sich um so genannte ‚Allround-Carver’. Aha! Doro hingegen hatte Bretter die wesentlich länger waren als seine Skier, und das bei ihrer geringen Körpergröße. Er fragte sie, warum: „Ach, das sind meine uralten Rossignol Rennskier, die mag ich einfach, auch wenn sie heute nicht mehr dem gängigen Standard entsprechen und schwer zu fahren sind, vor allen Dingen, wenn man so ein Zwerg ist wie ich. Aber ich bin es so gewohnt und komme gut damit klar.“
Oben an der Bergstation ließ man erst einmal die Menge aus der Gondel vor und nahm sich Zeit. Doro erklärte, was man auf keinen Fall machen sollte, wenn man zum ersten Mal auf Skiern stand. Doch statt die Skier nun anzuschnallen, schulterte sie die Bretter und bedeutete ihm, es ihr gleichzutun. Sie hatte einen sanften Hang, der in einer großen Mulde endete und abseits von den frequentierten Pisten lag, ausgesucht. Nun erst ließ sie Paul sich auf seine Skier stellen. Sie schaute, dass alles seine Richtigkeit hatte, dann klackte sie selbst in Sekundenschnelle in ihre Bindung ein. Doch noch immer gab es keine Jungfernfahrt für ihn. Sie drehte sich zu ihm hin und stieß ihn in einer blitzschnellen Bewegung so feste an, dass er sofort das Gleichgewicht verlor und in den Schnee fiel: „Hey, was soll das? Wieso versetzt du mir denn einen Stoß? Bist du verrückt?“
Er war leicht ungehalten, aber sie schaute ungerührt auf das Chaos von Skiern und Stöcken zu ihren Füßen und meinte lakonisch: „Erste Lektion: Wie stehe ich auf, wenn ich gefallen bin! Und glaub mir, das wird öfter vorkommen, als dir lieb ist!“ Sie ließ sich neben ihn in den Schnee plumpsen und zeigte ihm dann, wie man die Skier zum Berg stellen musste, und dann mit Hilfe von Händen und Stöcken aufstand. Möglichst, ohne sofort zu Tal zu rasen.
Er mühte sich, aber etwas rutschte immer weg. Entweder machte sich ein Ski selbständig, oder er verhedderte sich im Stock, oder er rutschte mit der Hand ab. Er fluchte teilweise sehr unanständig. Dann gelang es ihm zwar aufzustehen, aber er stand schon zu steil zum Hang und fuhr ihr davon. Nur wenige Meter, dann lag er wieder im Schnee. Sie fuhr mit ein paar geschickten Schwüngen hinterher. „Niemals werde ich diesen Krampf lernen“, keuchte er, als er mit hochrotem Kopf wieder hochkam.
Er zog ein Zigarettenpäckchen aus der Skijacke hervor und bot ihr zuerst eine an. Sie schüttelte den Kopf: „Lass mal, aber ich rauche gerne ein, zwei Züge bei dir mit, wenn ich darf.“ Er zog einen Handschuh aus und zündete die Kippe an. Die ersten Züge genoss er sichtlich. Ganz ohne kam er einfach nicht aus. Noch nicht. Dann reichte er die Zigarette an Doro weiter, die ebenfalls einen Handschuh ausgezogen hatte. Sie nahm einen Zug, inhalierte und blies den Rauch wieder aus.
Noch einen zweiten tiefen Zug, dann gab sie ihm den Rest der Kippe zurück. Ihre Finger berührten dabei seine, diesmal aber zuckte er zurück. Er hatte eine Sanftheit, einen leichten Druck, ein Flattern bei dieser Berührung bemerkt. Die Zigarette landete im Schnee, dann umschloss seine Hand ihre Finger, ohne Druck zunächst, es war nur ein Probieren. Er verschränkte seine Finger einzeln mit den ihren, spürte dabei ein ungewohntes Kribbeln. Er schaute sie über den Rand seiner Sonnebrille an, sagte aber nichts.
Sie fand die Worte, die ihm fehlten: „Was ist es? Was spürst du?“ Er wusste nicht, wie er es erklären sollte. So zuckte er nur mit den Schultern. Sie entzog ihm seine Hand. Er runzelte die Stirn, griff wieder danach, drehte sie herum und betrachtete sie so genau, als hätte er noch niemals zuvor eine menschliche Hand gesehen. Dann endlich redete er: „Ich fand es auf einmal schön. Es liegt vielleicht auch daran, dass wir die ganze Zeit hier mit Handschuhen herumlaufen und dann plötzlich… du hast so kleine Hände, unglaublich.“
Es war ein winziger Schritt nach vorne. Ihm waren Dinge aufgefallen, die ihm normalerweise niemals wichtig gewesen wären, er hatte die Berührung als schön empfunden, das war genau die Richtung, die er einschlagen musste. Aber es war noch ein weiter Weg, ein gutes Stück Arbeit bis man von einem Therapieerfolg würde sprechen können. Er fror nun wieder, die Bewegung fehlte, das Rumstehen war nicht gut. Doro erklärte ihm, wie er technisch hinter ihr her fahren musste, wie genau er ihre Bewegungen, ihre Schwünge, ihr Umsteigen, ihr Gewichtverlagern beobachten musste, um es an sich selbst umsetzen zu können. Es war nicht einfach, weil er vieles einfach noch übersah, nicht konzentriert genug war, aber es lief nach einer Weile immer besser. Als die Sonne schon sehr tief stand, beschloss Doro, es für heute genug sein zu lassen und sie stapften schweigend zur Bergstation zurück.
_________________ No, I can't, really... (MMs Antwort auf eine "freche" Frage von mir...)
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