Macht mir keine Schande hier während ich mich in Hamburg amüsiere!!!
Und damit euch auch nicht langweilig wird, habe ich eine ganz besondere Überraschung für euch (vor allen Dingen für die "ADMV/IMFD"-Fans unter euch!). Schnallt euch an, holt die Kleenex-Box ganz nah herbei, es ist Zeit für eine Geschichte...
Paul
Teil 1
Er schlitterte auf seinen relativ dünnen Ledersohlen um die Ecke und wäre beinahe auf der Eisschicht ausgeglitten, als ihm mit voller Wucht ein Paar Skier vor die Stirn geschlagen wurden. Mit Mühe hielt Paul sich an der Hauswand fest, sonst hätte er der Länge lang auf dem schneebedeckten Gehweg gelegen. Mit zittrigen Händen versuchte er, den noch brennenden Zigarettenstummel aufzuheben, doch irgendwie gelang es ihm nicht. Seine Hände gehorchten dem Befehl seines Gehirns nicht. Wütend trat der den Glimmstängel mit dem Fuß aus. Dann hob er den Blick und schaute in das Gesicht des Verursachers des kleinen Zusammenstoßes.
Eine kleine Frauengestalt, eingemummt in die hier im Ort zu dieser Jahreszeit üblichen Bekleidung: Hellgraue Skihose, weiße Skistiefel, eine knallgelbe Daunenjacke, eine graue Mütze auf dem Kopf und das halbe Gesicht wurde von einer Sonnenbrille abgedeckt. Sie hielt ein Paar Skier der Marke Rossignol Racing nun krampfhaft fest und hielt sich mit der anderen, ebenfalls behandschuhten Hand den Mund zu vor Schreck. Dann aber plapperte sie in Deutsch unverdrossen auf ihn los: „Oh, meine Güte, ich habe Sie nicht um die Ecke kommen sehen, das tut mir sehr leid. Haben Sie sich sehr wehgetan?“ Er konnte nur wenig Deutsch, es beschränkte sich im Wesentlichen auf den Umgang mit Supermarktkassiererinnen: ‚Was kostet das?’ und ‚Haben Sie eine Tute?’ waren Sätze, die er halbwegs passabel außer den Floskeln ‚Ja, Nein, Danke, Guten Morgen, Guten Abend’ herausbrachte. Wobei er sich immer wunderte, was er bei dem Wort ‚Tute’ denn nun falsch machte, denn oftmals sah ihn die Frau an der Kasse dann an wie ein Mondkalb, bis sie kapierte, dass der Kunde vor ihr offensichtlich keine Kindertröte, sondern eine Einkaufstüte haben wollte.
Paul tat jede Faser seines Körpers weh. Aber das kam nicht von dem Zusammenprall mit der Skitouristin. Er litt unendliche Qualen durch die Entzugserscheinungen, die er hatte. Mit einem verächtlichen Lächeln blickte er auf die ausgetretene Zigarette. War eigentlich auch nicht erlaubt, aber er konnte sich diese Droge absolut nicht verkneifen. Wenn er schon auf alles andere in dieser gottverdammten Klinik verzichten musste. Kein Alkohol, keine Zigaretten, keine Medikamente, keine anderen Drogen, natürlich kein Sex (mit wem denn auch, diese weiblichen Junkies in seinem derzeitigen Umfeld stießen ihn völlig ab, er fand die Frauen in der Klinik einfach furchtbar), nur entkoffeinierter Kaffee, nicht einmal TV und PC waren erlaubt.
Er schauderte und fröstelte. Auch ein Zeichen des Entzugs. Wenn er sich bewegte, ging es einigermaßen, aber nun, da er stehen geblieben war, schienen seine Füße innerhalb von Sekunden zu Eiszapfen zu werden. Wobei er zugeben musste, dass er natürlich nicht das richtige Schuhwerk für diesen Ort hatte. Welcher Teufel hatte ihn nur geritten, dass er zugestimmt hatte, mitten im europäischen, alpenländischen Winter in diese Klinik zu gehen? In einen Ort, der um diese Jahreszeit von Skiern, Snowboards, und sonstigen Wintersportgeräten zugepflastert war? Er griff sich stöhnend an die Stirn, was sein Gegenüber sofort veranlasste, einen weiteren Schwall deutscher Worte auf ihn loszulassen: „Oh je, ich habe Ihnen wohl eine volle Breitseite am Kopf verpasst, wie? Brauchen Sie einen Arzt?“
Er schüttelte den Kopf, was ihr wie eine Verneinung ihrer Frage vorkam, was er aber natürlich nicht so gemeint haben konnte, da er das rasch aus ihrem Mund sprudelnde Deutsch nicht verstanden hatte. Er versuchte, seine zittrigen Hände unter Kontrolle zu bekommen, fuhr sich dann mit der Zunge über die ausgetrockneten, aufgesprungenen Lippen und sagte schließlich mit einer samtweichen Stimme, die sie vor Verblüffung erstarren ließ: „Ick sprecke nickt Deutsch!“
Sie schaute sich ihr Unfallopfer genauer an. Der Mann war enorm groß, sicher um ein Meter neunzig. Die Augen waren blau, strahlten aber nicht im Tageslicht, sondern blickten trüb und matt durch die Gegend. Sein Gesicht war grau und fahl, obwohl er höchsten Mitte dreißig sein durfte. Er war schlank und hatte einen sehr männlichen Körperbau, aber etwas an ihm ließ einem diese positiven Eindrücke schnell wieder vergessen. Seine Kleidung war ziemlich einfach, um nicht zu sagen, fast schäbig, aber nicht schlampig oder dreckig. Sein Blick war unstet, seine Hände fahrig, er konnte sie nicht ruhig halten. Er schluckte mehrere Male nervös und machte alles in allem den Eindruck, als wäre er nicht ganz anwesend.
An seinem Akzent meinte sie, einen Briten oder Australier erkannt zu haben, also redete sie wie selbstverständlich in fließendem Englisch weiter: „Hören Sie, es tut mir leid, dass sich Sie über den Haufen gerannt habe, aber ich habe wirklich nicht damit gerechnet, dass Sie um diese Ecke gebogen kommen. Kann ich Ihnen irgendwie helfen, fühlen Sie sich unwohl?“ „Danke, es ist alles soweit in Ordnung, es liegt nicht an Ihnen, machen Sie sich keine Sorgen“, antwortete er und deutete dann in einer hilflosen Geste auf ein von der Sonne beschienenes großes Gebäude am gegenüberliegenden Hang: „Ich bin aus der Klinik, Sie wissen schon…“, er ließ den Satz offen.
Sie verstand sofort, obwohl sie auch nur zu Gast in diesem Ort war, aber sie kam schon seit vielen Jahren hierher und wusste natürlich, dass dies eine bekannte Klinik für Drogenentzug war. Mit einem entschlossenen Blick schulterte sie ihre Skier, fasste mit der freien Hand nach dem Ärmelzipfel seines Parkas und sprach mit energischer Stimme: „Gut, Sie kommen nun mit, denn Sie sehen total fertig und durchgefroren aus und ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, dass Sie mir hier mitten auf der Straße kollabieren und in den kalten Schnee fallen. Los geht’s!“ Sie marschierte mit ausholenden Schritten durch den Ort, dabei klackten die geöffneten Schnallen ihrer Skischuhe, ein an sich total normales Geräusch, das aber in Pauls empfindlichen Ohren derzeit zu einem unerträglichen Crescendo anschwoll. Er bemühte sich eisern, sich nicht in Panik die Ohren zuzuhalten.
Er blieb kurz stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Das würde ihn von dem furchtbaren Geräusch in seinen Ohren ablenken, seine Gedanken woanders hin führen. Sie blickte ihn fragend an: „Rauchen ist sicher auch verboten, oder?“ Er nickte stumm und inhalierte einen tiefen, ersten Zug. Es tat ihm gut, er fühlte das Nikotin in seine Lungen strömen, sich in seinem Inneren ausbreiten, merkte, wie es alles durchdrang. Sie wies mit der Hand auf ein Haus in der Nähe, im typischen landesüblichen Stil erbaut, mit viel Holz und großen Balkonen. „Es ist nicht mehr weit, das ist es.“ Sie stapfte durch den Schnee um das Haus herum, blieb vor einer hölzernen Tür stehen, offensichtlich ein Kellerzugang, Hanglage. Sie stellte die Skier an der Hauswand ab, zog die Handschuhe aus und fummelte einen Schlüssel aus ihrer Anoraktasche. Die Tür öffnete sich knarzend und sie trat ein, die Skier voran nehmend. Er ging ihr unaufgefordert hinterher. Es kam ihm alles unwirklich, wie in einem Traum vor. Aber bislang war es kein brutaler, schreiender, Furcht erregender Alptraum wie sonst bei ihm üblich. Es gefiel ihm, was er da träumte, wenn er es denn überhaupt träumte.
Sie stellte ihre Skier ab und wischte mit einem Lappen kurz drüber. Dann ließ sie sich auf einem Hocker nieder und zog fest an ihren Skischuhen, bis sie endlich in Strümpfen da stand. Die Sonnenbrille hatte sie bereits beim Eintreten in den Kellerraum abgenommen und gegen eine normale Brille ausgetauscht. Soweit er es in dem schummrigen Deckenlicht erkennen konnte, waren ihre Augen ebenfalls blau. Er war in solchen Einschätzungen zwar gnadenlos schlecht, aber er sah nun deutlich, dass sie um einiges älter als er sein musste. Vorhin auf der Straße hatte sie einen eher gleichaltrigen Eindruck auf ihn gemacht. Er schüttelte verwundert den Kopf. Doch die große Überraschung kam, als sie ihm bedeutete, ihr durch die nächste Tür ins Haus zu folgen und dabei ihre Mütze vom Kopf zog.
Eine Flut von tizianroten Haaren fielen ihr in etlichen weichen Kaskaden über die Schulter den Rücken herab, er hatte sofort das unbändige Bedürfnis einmal richtig dort hineinlangen zu wollen. Ein platinblonder Pony kontrastierte das Bild, der ihr nun durch die Mütze aber witzig und wirr vom Kopf abstand. Er lächelte schräg, eines der wenigen Lächeln, die in letzter Zeit über sein Gesicht gehuscht waren. Obwohl sie in etwa die Größe von Jackie hatte, war sie doch glücklicherweise ganz anders. Er seufzte erleichtert. Er hatte einmal mehr alles in der Heimat hinter sich gelassen, weil er sich darüber klar geworden war, dass er ohne Entzug sein Leben niemals in den Griff bekommen würde. Diesmal war er zwar nicht Hals über Kopf abgereist, wie vor fast achtzehn Jahren, er hatte sich von allen verabschiedet und war dann erst gegangen. Aber leichter war ihm der Abschied deswegen nicht gefallen. Jackie hatte jedoch zu hohe Erwartungen in ihn gesetzt, die er absolut nicht hatte erfüllen können. Ein Zusammenleben mit ihr hätte nicht funktioniert. Ganz sicher nicht. Auch wenn der Schmerz, die Trauer sie für kurze Zeit lang zusammengeschweißt hatte, es war nicht von Dauer gewesen.
Sie waren in der Wohnung der Frau angekommen. Als sie aus der Skihose geschlüpft war, und völlig locker und selbstverständlich in der Skiunterwäsche vor ihm stand, erklärte sie: „Es ist nicht groß, ein Schlafzimmer, dieser Wohnraum mit der offenen Küche und das Bad. Aber für mich reicht es. Im Sommer und Herbst vermiete ich die Wohnung an Wanderer und Bergsteiger, im Winter und manchmal bis ins Frühjahr hinein nutze ich sie. Ich liebe den Winter und das Skifahren.“ Er nickte abwesend, obwohl er nun in einer geheizten Wohnung war, fror er, nachdem er seinen Parka ausgezogen hatte. Sie warf ihm nur einen kurzen Blick zu und wusste sofort Bescheid. Sie packte ihn in eine Wolldecke auf das Sofa an der Heizung und machte sich in der Küche zu schaffen.
Gedanklich war er bei Jackie stehen geblieben. Aufgewühlt barg er sein Gesicht in beiden Händen. Es war alles schief gelaufen. Er hatte keinen Moment mehr ihre Nähe ertragen können, nur wenige Tage nach der Beerdigung von… – Celia! Er stöhnte auf und spürte, wie ihn die Übelkeit in immer schlimmer werdenden Wellen heimsuchte. Jackie, seine Ex-Freundin, Jackie, die Mutter seiner… – Schwester! Er sprang auf und fragte die Frau am Küchenherd nach der Toilette. Sie zeigte ihm rasch den Weg. Er würgte und spuckte alles heraus, was er noch im Leib hatte. Sie brauchte nicht extra an der Klotür zu lauschen, um dies zu hören, das Apartment war nicht sonderlich groß. Als er wieder aus dem Bad heraus kam, war er leichenblass. Er wankte zum Sofa und wickelte sich sofort wieder in die Decke, er klapperte mit den Zähnen und war alles in allem in einem mehr als bedauernswerten Zustand. Sie hatte gerade schon überlegt, ob sie nicht besser die Klinik anrufen sollte. Doch ein unbestimmtes Gefühl in ihr hielt sie davon ab. Sie fragte ihn: „Kaffee?“ Er schüttelte langsam den Kopf: „Nein, Koffein ist tabu.“ Sie nickte und stellte eine Minute später eine große Tasse heiße Milch auf den Tisch vor ihm. Dann setzte sie sich an das andere Ende des Sofas, trank einen Schluck von ihrem Tee und sagte dann: „Mein Name ist übrigens Doro. Doro Jungheim.“
Er schaute zwischen der Wolldecke hervor wie ein verloren gegangener Hundewelpe, nahm die heiße Tasse mit Milch in seine Hand und murmelte: „Ich bin Paul. Paul Prior aus Neuseeland.“ „Probier’ die Milch, Paul, ich denke, sie wird dir schmecken.“ Jetzt war es an ihm zu nicken, dann nahm er mit der Nase den Duft aus der Tasse auf, ohne aber wirklich sagen zu können, was er da roch. Erst als er einen Schluck genommen hatte, merkte er, dass das Gebräu süß, offensichtlich sehr heiß – und ziemlich scharf war! War das ein gutes Zeichen? Etwa, dass seine Geschmacksnerven wieder zurückkehrten? Das wäre ein winziger Fortschritt. „Was hast du da rein gemacht? Ich finde, es schmeckt außerordentlich gut.“ „Danke“, sie lächelte ihm zu, „es ist Milch und Honig, aber dazu eine Prise Pfeffer und etwas Chilipulver.“ Er staunte nicht schlecht. Die Mischung gefiel ihm. Er trank mehr davon, schnell und zügig, was sie verwunderte, normalerweise verbrannte man sich den Mund, wenn man es derart heiß runterstürzte. Er fühlte die Hitze des Getränkes hingegen nicht, nur, dass es ihm wohl tat. Immerhin.
Er schaute sie über den Rand der großen Tasse an: „Ich möchte nicht neugierig erscheinen, aber – lebst du hier allein? Hast du keine Familie?“ Sie deutete auf seine nassen Schuhe und ging auf seine Frage zunächst gar nicht ein: „Wenn du diese Schuhe nicht gleich ausziehst, damit ich sie mit Zeitung ausstopfen kann und unter die Heizung stelle, wirst du nicht an deinen massiven Entzugserscheinungen sterben, sondern an einer noch wesentlich massiveren Lungenentzündung!“ Er streifte sich wie auf Kommando die Lederslipper von den Füßen, zog seine langen Beine nach oben auf das Sofa, unter die Decke und bedachte sie mit einem Blick aus Verzweiflung und Bewunderung. Er schürzte die Lippen und zog die Nase kraus, als er sagte: „Du bist sehr direkt. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet.“
„Oh, ich wäre schon noch darauf zurückgekommen. Augenblick…“, sie nahm seine Schuhe, und machte sich daran im Flur zu schaffen. Nach nicht einmal einer Minute war sie wieder bei ihm. „Ich bin eigentlich ganz froh, unabhängig und frei zu sein. Abgesehen vom Job natürlich. Es hat einmal eine intensive Beziehung in meinem Leben gegeben, aber dann haben wir beide festgestellt, dass unser Leben in verschiedene Richtungen driftete, und das war’s dann. Natürlich vermisst man manchmal Wärme und Geborgenheit, aber irgendwo muss man wohl Abstriche machen. Ich habe viele nette Freunde und Bekannte, Männer und Frauen, das geht dann schon. Vielleicht war auch mal die Sehnsucht nach Kindern in mir da, aber der Käse ist ja inzwischen gegessen.“ Sie lachte, nicht bitter, nicht enttäuscht, einfach ein freies Lachen.
Er fragte sich, wie ein Mensch einem anderen, völlig unbekannten Menschen gegenüber so offen sein konnte. Sich einfach über private Themen unterhalten zu können, mir nichts, dir nichts. Er selbst war nicht einmal fähig gewesen, seiner Familie gegenüber sein Herz zu öffnen. Er verschloss alles in sich, fraß alles in sich hinein. Und da drinnen verrottete es langsam und vergiftete seinen Körper von innen heraus. Das spürte er. Es hatte nicht einen Menschen in seinem beschissenen Leben gegeben, dem er blind hatte vertrauen können. Nicht einen einzigen Menschen, dem er dauerhaft seine Liebe hätte schenken wollen. Nein, das war nicht wahr, es hatte einen Menschen gegeben, der ihm so viel bedeutet hatte, dass er vielleicht zu alldem fähig gewesen wäre… – Celia! Aber sie war nicht mehr. Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Körper bei diesem Gedanken, fast hätte er die Milchtasse fallengelassen. Er kämpfte die nächste Woge der Übelkeit nieder, er wollte nicht schon wieder die Kloschüssel umarmen. Gerade hatte er ein wenig Farbe auf die Wangen bekommen, schon wich der rosige, gesunde Schein wieder einem fahlen Ausdruck.
Doro bekam den Wandel sofort mit. Sie beugte sich zu ihm rüber, legte die Hand auf einen seiner Arme und fragte: „Möchtest du dich hinlegen?“ Er schüttelte langsam den Kopf und mühte sich mit einer Antwort ab: „Es geht schon, danke. Ich muss auch bald zurück in die Klinik. Zum Abendessen muss ich da sein.“ Er holte tief Luft und fuhr dann etwas weniger gequält fort: „Ich habe mich für den offenen Entzug entschieden, weil ich wusste, dass ich es nicht auch noch ertragen würde, die ganze Zeit lang eingesperrt zu sein. Aber ich muss alle Therapiestunden und alle Mahlzeiten akribisch einhalten. Sonst habe ich den offenen Entzug verspielt.“ „Wann ist das Abendessen denn angesetzt?“ Er verdrehte die Augen, er fand die Essenszeiten einfach zum Kotzen, erstens, weil er es nicht gewohnt war, regelmäßige Mahlzeiten einzuhalten und zweitens, weil es für ihn Zeiten waren, wo für gewöhnlich nur ganz kleine Kinder oder sehr alte Leute zu Tisch saßen. Aber doch kein vernünftiger Erwachsener! „Um 18 Uhr“, er machte eine sehr eindeutige, obszöne Geste, was sie jedoch nicht im Geringsten schockierte, im Gegenteil, sie grinste sogleich. „Und um 19 Uhr habe ich ein Gespräch mit meinem Psycho-Fuzzi“, fügte er hinzu, „jeden zweiten Abend!“ Er steckte sich nun symbolisch den Finger in den Mund, wiederum um seinen Eindruck von dieser Art der Therapie darzustellen.
„Und danach?“ fragte Doro. „Danach habe ich bis 22 Uhr frei, ich gehe dann oftmals schwimmen. Wir haben ein Hallenbad in der Klinik. Fernsehen ist ebenfalls nicht erlaubt und in der Klinik auch gar nicht möglich.“ „Okay, was hast du gegen den Psychologen? Hilft er dir nicht, oder was?“ Paul blickte zur Zimmerdecke und zuckte mit den Schultern: „Keine Ahnung, ich bin nicht sonderlich mitteilsam. Er versucht natürlich, mir die Würmer aus der Nase zu ziehen, aber er kommt nicht wirklich weiter.“ „Was hält dich davon ab, dich mitzuteilen? Es ist sein Job, dir zu helfen.“ „Ich weiß, aber ich finde es einfach merkwürdig und unpassend, mit Psychologen und Sozialarbeitern und was weiß ich noch für Therapeuten zusammen zu arbeiten, die mehr als zehn Jahre jünger sind als ich und meiner Meinung nach einfach nicht fähig sind, sich über eine gewisse Lebenserfahrung zu definieren.“ Er hielt erschöpft inne, so einen langen Monolog hatte er schon ewig nicht mehr von sich gegeben. Aber er war noch nicht fertig, er fühlte schon, wie die nächsten Worte sich einen Weg aus seinem Kopf, seinem Herzen, seiner Kehle bahnten: „Unter den Ärzten gibt es einige, die älter sind, aber die haben einfach keine Zeit für lange Gespräche. Dafür seien die Therapeuten zuständig, sagt man mir dann.“
Er warf mit einem Ruck die kuschelige Decke von sich und richtete sich zu seiner vollen Körperlänge auf. Doro kam sich ihm gegenüber wie ein Hobbit vor. „Ich begleite dich zur Klinik“, sagte sie. Doch Paul schüttelte den Kopf, nun nicht mehr so apathisch, mehr entschlossen wirkend: „Nicht nötig, ich brauche kein Kindermädchen.“ Es klang schroffer und abweisender, als er es beabsichtigt hatte. Sie ließ sich von seiner brüsken Art nicht abschrecken: „Ich muss sowieso noch etwas einkaufen, der Supermarkt liegt auf dem Weg, also denke bloß nicht, dass ich nur wegen dir da draußen durch den Schnee stapfe! Es bietet sich halt an.“
Während er sich seine Schuhe wieder anzog, ging sie ins Schlafzimmer, um die Skiunterwäsche loszuwerden. Sie zog eine Jeans an, darüber eine schwarze Bluse und einen Norwegerpulli. Im Flur holte sie ein paar schwarze Moonboots aus dem Schrank und warf sich eine Fleecejacke über. Er stand im verwaschenen Parka da wie ein Oberprimaner, der ein paar Mal sitzen geblieben sein musste.
Draußen an der Luft musste er schwer gegen den Drang ankämpfen, sich eine Zigarette anzuzünden. Sie schien es zu merken, denn sie blieb stehen: „Paul, es ist nicht mehr sehr weit zur Klinik. Schaffst du es ohne Kippe, oder nicht?“ Er bohrte eine Fußspitze nervös in den Schnee und schaute mit leerem Blick zu Boden: „Keine Ahnung, es ist nicht einfach.“ Sie machte einen Schritt auf ihn zu: „Okay, Kompromiss: Ich rauche mit, wir teilen uns eine Zigarette, ja?“ Abermals versetzte sie ihn in Erstaunen. Er zog ein Zigarettenpäckchen aus seiner Parkatasche und reichte es ihr. Mit spitzen Fingern, als hätte sie niemals in ihrem Leben etwas anderes getan, als Zigaretten aus einer Schachtel zu fischen, nahm sie eine heraus und steckte sie sich zwischen die Lippen. Das Feuerzeug flackerte auf und tauchte ihr Gesicht nun in der Dämmerung in ein diffuses Licht. Er fand sie unglaublich schön in diesem Moment. Sie rauchte ruhig, nach den ersten Zügen reichte sie stumm die Zigarette an ihn weiter. Er hatte sie genau und fasziniert beobachtet, sie paffte nicht, sie inhalierte alles tatsächlich in ihre Lungen. Es hatte etwas sehr Intimes, dieses Miteinanderteilen einer Zigarette, er hätte es nicht für möglich gehalten.
Nachdem er einige Züge gemacht hatte, reichte er den Glimmstängel an sie zurück. Er setzte sich langsam in Bewegung, da er im Stehen erbärmlich fror: „Rauch sie ruhig fertig, ich möchte nicht mehr!“ Die erleuchteten Fenster der Klinik erschienen vor ihnen. Vor der Tür drehte er sich zu ihr um: „Also, das war unheimlich nett von dir, danke…“, weiter kam er nicht, sie schnitt ihm das Wort ab: „Ich bin um 20 Uhr wieder da. Ist dann deine Therapiestunde beendet?“ Er nickte verwirrt. „Ich warte hier vor der Tür“, sagte sie und war bereits im Begriff zu gehen, als er ihr hinterher rief: „Brauchst du nicht, komm ruhig herein, ich darf in der Halle Besuch empfangen. Nur – mich kommt normalerweise niemand besuchen!“
Nächste Woche geht es weiter...
(danke an Becci fürs Gegenlesen!)
_________________ No, I can't, really... (MMs Antwort auf eine "freche" Frage von mir...)
Zuletzt geändert von doris-anglophil am 24.05.2007, 20:14, insgesamt 2-mal geändert.
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