Der vorletzte Teil von Paul... nicht mehr ganz so "shocking" wie zuvor, trotzdem eventuell Taschentücher in Reichweite halten!
Teil 6
Er tat dies aber mit abwesendem Blick, sehr stockend und mit extrem vielen Pausen, die manchmal Minuten dauerten. Er vermied es konsequent, Doro dabei anzusehen. Doro war währenddessen ständig bestrebt, in irgendeiner Weise körperlich mit ihm in Kontakt zu bleiben. Entweder hielt sie eine Hand von ihm, oder strich ihm durch die Haare, oder hatte einfach nur eine Hand auf seinem Brustkorb liegen. Er merkte nicht direkt, wie gut ihm diese minimalen Gesten, die sanften Berührungen eigentlich taten.
Was er nun aus sich heraus ließ, hatte viel mit seiner inneren Abgestumpftheit zu tun, mit seiner Unfähigkeit zu fühlen und Gefühle zu zeigen. Doro zeigte sich nicht im Geringsten schockiert über seine Enthüllungen. Sie ließ ihn das auch spüren. Und alles würde sich lösen, sobald er mit sich selbst ins Reine kommen und emotional eine andere Ebene erreichen würde. Und das vielleicht schon bald.
Langsam tat Doro der Rücken weh, das Sofa war zwar sehr bequem, aber auf Dauer für zwei Personen ungeeignet. Vor allen Dingen, wenn einer davon ein Meter neunzig groß war. Sie stand auf, schenkte Apfelschorle nach und sagte dann frisch von der Leber weg: „Ich kann hier nicht mehr sitzen, wir sollten zu Bett gehen. Dort ist mehr Platz für uns beide und wir können so lange reden, bis uns die Augen endgültig zufallen.“ Sie wartete erst gar nicht seine Antwort ab, sondern öffnete die Tür zum Schlafzimmer und verschwand.
Paul erhob sich langsam vom Sofa und folgte ihr. Im Türrahmen blieb er leicht gebückt stehen. Sie zog sich gerade mit großer Selbstverständlichkeit den Pullover aus. Er starrte sie unverhohlen an. „Paul, klapp’ die Kinnlade zu! Es war dir doch klar, dass dies ein Arrangement mit Übernachtung ist, oder?“ „Ein Arrangement? Deine Art, den Dingen einen Namen zu geben, ist schier unglaublich.“ Er lachte trocken auf. „Ich schildere dir meine sexuellen Schwierigkeiten, um nicht zu sagen, meine pervertierten Neigungen, was mir ungeheuer schwer gefallen ist, derartiger Seelen-Striptease liegt mir nun mal nicht, und du hüpfst hier einfach so ins Bettchen. Klasse!“
Sie grinste, zog ihre Jeans aus und legte sich unter die Decke. „Möchtest du auf dem Sofa schlafen?“ fragte sie feixend. Er warf einen Blick zurück ins Wohnzimmer, das erwähnte Möbelstück war höchstens ein Meter sechzig lang. Pauls Augen wanderten zurück zu Doro im großen Bett: „Auf gar keinen Fall schlafe ich auf dem kleinen Mistding!“ Er streifte sich das Sweatshirt über den Kopf, öffnete die Jeans und legte sie ab. Dann landete er mit einem mächtigen Satz neben Doro auf der rechten Bettseite.
„Paul?“ „Hmh?“ „Du hast die Socken noch an!“ Er musste lachen, machte eine rasche Bewegung, streifte die Socken von seinen Füßen und pfefferte sie in die Ecke, wo seine übrige Kleidung lag. Er verschränkte seine Arme hinter dem Kopf und sank in das Kissen zurück. Dann fing er wieder an zu reden. Sie tastete unter der Bettdecke nach seiner Hand. Er zog seine linke Hand vom Kopf weg und reichte sie ihr.
Wenn er geglaubt hatte, dass der Gipfel des Unwohlseins bei ihm während seiner Schilderungen der sexuellen Praktiken gewesen war, hatte er sich gewaltig getäuscht. Je tiefer er sich in die Erzählung um Andrew, Penny, seine Eltern, Jackie und zu guter Letzt Celia hinein begab, umso offensichtlicher wurden seine Ängste, seine völlig zerstöre Persönlichkeit lag nackt und offen da. Er zitterte bereits, als es um Andrew und Mutter, sowie um ihn und seinen Dad ging. Er wurde extrem unruhig, als er von Jackie berichtete, ganz schlimm war es, als er erzählte, wie er das Babyfoto im Atlas gefunden hatte. Er konnte sich kaum beruhigen, Doro hatte große Mühe, ihn dazu zu bringen, weiter zu reden.
Je weiter die Familiensaga, das Familiendrama voranschritt, desto schwieriger wurde es für Doro, Pauls Worte akustisch wahrzunehmen. Einmal redete er so leise, dass sie ihr Ohr an seine Brust legen musste, um überhaupt etwas zu verstehen, was ihn wiederum so irritierte, dass er nicht weiter sprechen konnte. Dann jedoch wurde er immer lauter, hysterischer, die Worte vermischten sich mit Schluchzern, es hielt ihn dann auch plötzlich nichts mehr im Bett, er sprang aufgeregt auf und ging voller Unruhe vor dem Bett auf und ab. Sie erfasste nur noch bruchstückhaft, wie es sich zugetragen haben musste. Paul war nun dem totalen Zusammenbruch sehr nahe. Dann fiel er vor dem Bett auf die Knie und schrie zum Himmel: „Ich habe meine Schwester so sehr geliebt – und sie ist tot, tot, tot!!!“
Alles war gesagt, restlos.
Doro half dem zusammengebrochenen Paul auf und schleppte ihn ins Bett. Er wurde nach wie vor von Weinkrämpfen geschüttelt, warf sich hin und her und war kaum zu beruhigen. Sie weinte mit, aber ruhig und leise. Er war also der Liebe fähig gewesen und ausgerechnet das Wesen, das ihm dieses Gefühl entlockt hatte, lebte nicht mehr, war unter so gottverdammt blöden Umständen ums Leben gekommen. Eine größere Qual hätte man Paul nicht antun können. Es musste die Hölle für ihn gewesen sein.
Er hatte sich total verausgabt, fühlte sich wie gerädert. Aber eines blieb ihm noch, er war noch nicht ganz am Ende. Bebend richtete er sich ein wenig auf und schaute in Doros verweintes Gesicht. Seine Stimme war völlig heiser vom lauten Jammern, als er fragte: „Möchtest du, dass ich dich küsse?“
Doro schaute ihn perplex an. Was hatte er da gerade gesagt? Sie musste sich verhört haben. Sie drehte sich weiter zu ihm um. „Wie bitte?“ Er wiederholte seine Frage, nun etwas bestimmter: „Doro, möchtest du, dass ich dich küsse?“ Ihre Augen blickten ihn groß an, dann nickte sie.
Er legte ihr eine Hand auf den Rücken, schob sie näher zu sich heran und senkte seinen Mund auf ihren. Seine Lippen zitterten jedoch enorm. Sehr vorsichtig tastete er Millimeter für Millimeter ab. Sie lag stocksteif da und regte sich zunächst nicht. Eine ganze Weile später grub er seine Hand in ihre Haare, etwas, was er am Tag ihres Kennenlernens schon liebend gerne gemacht hätte, zog ihren Kopf fest heran und glitt sanft und leicht mit der Zunge in ihren Mund.
Bei Gott, wie lange hatte er schon niemanden mehr geküsst? Seit Jackie? Danach nicht mehr, oder? Er konnte sich nicht mehr erinnern. Er wusste nur, dass es noch niemals so schön, so intensiv gewesen war. Er stöhnte. Wie ein Echo kam ein Stöhnen von ihr. Dann riss sie sich los von ihm. „Paul!“ Sie keuchte, als sie seinen Namen aussprach „ich muss wissen, wie es dir geht?“
Er drehte sich auf den Rücken, schloss die Augen: „Ich würde zu gerne sagen ‚beschissen’, aber das trifft ja jetzt nicht mehr zu. Das habe ich wohl hinter mir gelassen. Abgesehen davon, dass mir die ganze Offenlegung meines bisherigen Lebens sehr zu schaffen gemacht hat, bin ich doch froh, dass ich in dir einen Menschen gefunden habe, dem ich so vertrauen kann. Ich hatte vor zwei Tagen noch gedacht, dass es für mich niemanden auf der Welt gibt. Auf den Topf Paul Prior passt einfach kein Deckel.“
„Und nun?“ fragte Doro nach. „Nun? Ich sehe jetzt, wo ein Weg für mich entlanggeht. Ein großer Lichtblick. Und es scheint, dass auch ein passender Deckel für mich existiert. Hoffe ich doch. Aber das wird sich noch weisen.“ Er drehte sich wieder langsam zu ihr hin: „Wir haben viel geschafft in den letzten Tagen, vor allen Dingen heute Abend und die halbe Nacht lang. Mein Klinikaufenthalt und die Therapie dort sind noch nicht zu Ende. Aber es wird ein erfolgreiches Ende sein, dank deiner Hilfe. Doro, du kannst alles von mir haben, wirklich. Nur bei einer Sache sollten wir bitte das Ende der Therapie abwarten. Obwohl es mir schwer fallen wird.“ Sie blickte ihn neugierig an: „Und die wäre?“
Er schaute an ihr vorbei, doch sie legte ihm einen Finger unter das Kinn und zwang ihn so, ihr in die Augen zu sehen. Er seufzte resigniert: „Also gut. Ich möchte erst dann mit dir schlafen, wenn ich hundertprozentig weiß, dass es für uns beide ein schönes Erlebnis sein wird. Verstehst du das?“ „Ja. Nein. Doch schon.“ Sie machte eine Pause, dann kam ein Nachsatz von ihr: „Das Warten wird dir schwer fallen, sagtest du?“ Er lächelte und versicherte ihr: „Sehr schwer, sogar.“ Dann küsste er sie noch einmal, sehr heftig, sehr leidenschaftlich, bis ihn die Erschöpfung zu übermannen drohte. Er sackte in die Kissen zurück und murmelte einen Gutenacht-Gruß.
Er schlief gut und traumlos bis zum nächsten Morgen. Sein Körper hatte mit der Entgiftung abgeschlossen und sein Geist war durch das Reden, sich mitteilen und sich öffnen unbelastet und erfrischt.
Dr. da Silva traute seinen Augen kaum, als ein fröhlich pfeifender Paul Prior ihm im Klinikflur zuwinkte: „Guten Morgen, Doktor. Hat Herr Eisenbach schon nach mir gefragt? Ich bin in zwei Minuten bei ihm, danke!“
_________________ No, I can't, really... (MMs Antwort auf eine "freche" Frage von mir...)
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